Der Corona-Schock ereilte die deutschen Handballer nicht einmal 24 Stunden vor dem EM-Gruppenfinale gegen Polen. Gleich fünf weitere Spieler wurden am Montag positiv auf das Coronavirus getestet und mussten sich im Teamhotel in Bratislava umgehend in Isolation begeben.
Bundestrainer Alfred Gislason steht damit vorerst nur ein Rumpfkader von elf gesunden Akteuren für die Partie am 18. Januar (18.00 Uhr/ZDF) zur Verfügung. Betroffen sind Torwart Andreas Wolff, die Rückraumspieler Kai Häfner und Luca Witzke sowie die Außen Timo Kastening und Lukas Mertens. Nachdem sich zuvor bereits Julius Kühn und dessen Ersatzmann Hendrik Wagner mit dem Coronavirus infiziert hatten, fallen insgesamt sieben deutsche Akteure bei der Endrunde in Ungarn und der Slowakei aus.
Als Ersatz nominierte Gislason am späten Montagabend Torwart Johannes Bitter vom HSV Hamburg sowie die Feldspieler Fabian Wiede, Paul Drux (beide Füchse Berlin), Rune Dahmke (THW Kiel) und Sebastian Firnhaber (HC Erlangen) nach. Das Quintett kann gegen Polen aber nur zum Einsatz kommen, wenn es vorher einen negativen PCR-Test vorlegt.
Schockierend, dass das Virus trotzdem reinkommt
«Wenn du positiv bist, dann bist du positiv. Das kannst du nicht ändern», hatte der nun betroffene Kastening nach dem 34:29 gegen Österreich noch gesagt. «Du kannst nur auf einen milden Verlauf hoffen, das wünsche ich jedem. Aber es bleibt nicht aus – gerade wenn man sich entscheidet, an einem Großturnier teilzunehmen. Da kann man die Kontakte nicht auf Null herunterfahren.»
Der ehemalige DHB-Kapitän Uwe Gensheimer sprach von einem Worst-Case-Szenario. «Es tut mir unfassbar leid für die Mannschaft, den Staff, für alle drumherum, weil ich weiß, dass unfassbar viel Aufwand betrieben wurde. Dass das jetzt so passiert, ist auf jeden Fall ein Schock für alle», sagte der Linksaußen von den Rhein-Neckar Löwen.
Dabei hatte der Deutsche Handballbund alle möglichen Vorkehrungen getroffen, um dieses Schreckensszenario auszuschließen. Für die Spieler waren im Hotel extra zwei Etagen geblockt und Einzelzimmer gebucht worden. «Wir haben uns an alle Sicherheitsvorgaben gehalten», beteuerte Kapitän Johannes Golla und fügte hinzu: «Es ist schon schockierend, dass das Virus trotzdem reinkommt. Aber wir waren darauf vorbereitet, dass es auch uns treffen kann.»
Die Zeit für mögliche Ersatzleute ist knapp
Der Verband war im Krisenmodus und arbeitete mit Hochdruck an den Nachnominierungen, die Gislason auch außerhalb eines Anfang Dezember gemeldeten Pools von 35 Spielern vornehmen durfte. Doch die Zeit ist knapp – und eingespielt ist die deutsche Mannschaft aufgrund der besonderen Umstände natürlich nicht.
Wenige Stunden vor der Hiobsbotschaft war bereits der Corona-Fall von Wagner bekannt geworden, der erst am Vortag in Bratislava eingetroffen war und eigentlich den bereits in Quarantäne befindlichen Kühn ersetzen sollte. Der Zweitliga-Profi von den Eulen Ludwigshafen habe aber keinen Kontakt zu seinen Mitspielern oder dem Rest der deutschen Delegation gehabt, teilte der DHB mit. «Ich verstehe die Welt nicht mehr», sagte Wagner. «Mir geht es aktuell körperlich gut, aber die letzten Stunden waren eine emotionale Achterbahnfahrt.»
Alle positiv getesteten Spieler, die über kaum bis keinerlei Symptome klagen, müssen nun laut der Turnier-Regeln mindestens fünf Tage in Quarantäne bleiben. Erst danach könnten sie sich mit zwei negativen PCR-Tests an zwei aufeinanderfolgenden Tagen frei testen.
Erhebliche sportliche Schwächung
Für die deutsche Mannschaft bedeutet der massive Personalschwund natürlich eine erhebliche sportliche Schwächung. Im Duell mit den ebenfalls noch ungeschlagenen Polen, die im Vorfeld der Endrunde in Ungarn und der Slowakei ebenfalls mehrere Corona-Fälle in ihrem Team verzeichnet hatten, geht es um wichtige Punkte für die Hauptrunde. Eine Herkulesaufgabe für die DHB-Auswahl, die mit zwei Siegen gegen Belarus und Österreich verheißungsvoll ins Turnier gestartet war. «Die Punkte, die morgen vergeben werden, sind mitentscheidend für das Ranking in der Hauptrunde», hatte DHB-Sportvorstand Axel Kromer am Montagvormittag noch gesagt.
Eine wichtige Rolle könnte nun Torwart Till Klimpke zufallen, der sich mit seiner Galavorstellung gegen Österreich vor einem Millionen-Publikum an den Fernsehgeräten in den Fokus gespielt hatte. «Ich habe gestern Abend noch viele, viele Telefonate geführt in die Heimat. Es kamen sehr viele Glückwünsche», berichtete der Profi vom Bundesligisten HSG Wetzlar.
Und viele Zuschauer fragen sich: Wer ist dieser Klimpke? «Er ist offen, ehrlich und hilfsbereit», charakterisierte Routinier Patrick Wiencek den EM-Neuling und fügte hinzu: «Till ist sehr speziell – wie Torhüter so sind.» Klimpke selbst beschreibt sich so: «Außerhalb des Spielfeldes bin ich sehr ruhig. Aber in der Kabine bin ich schon einer, der versucht, die Mannschaft zu pushen, und auch ein wenig verrückt.» Das ist jetzt ganz besonders gefragt.