Johannes Bitter schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. So etwas hatte der 39 Jahre alte Torwart-Oldie in seiner langen Karriere noch nie erlebt.
«Es ist ziemlich das Verrückteste, was man als Handballer machen kann, aus dem Urlaub in den Flieger zu steigen und 60 Minuten bei der Europameisterschaft zu spielen», sagte Bitter nach dem 30:23 der DHB-Auswahl im EM-Gruppenfinale gegen Polen.
Nach den Olympischen Spielen im vergangenen Sommer in Tokio hatte Bitter seine Karriere in der Nationalmannschaft eigentlich beendet. Nur noch im äußersten Notfall wollte er aushelfen. Dass dieser tatsächlich eintreten würde, hatte der Weltmeister von 2007 wohl selbst nicht erwartet.
«Konnte nicht Nein sagen»
Am Montagabend war es soweit. «Ich habe mit meiner Familie am Abendbrottisch gesessen und danach gesehen, dass ich einen verpassten Anruf vom Bundestrainer hatte. Da musste ich erst einmal durchatmen», berichtete Bitter. «Aber es war klar, dass ich in dieser Notsituation nicht Nein sagen konnte.» Und das, obwohl Bitter gerade wieder Vater geworden ist. Vor wenigen Tagen brachte Lebensgefährtin Anna Loerper, die selbst 246 Länderspiele für die DHB-Frauen absolvierte, das erste gemeinsame Kind zur Welt.
Um 4.30 Uhr am Dienstagmorgen klingelte der Wecker, nach der Ankunft in Bratislava ging es zum Corona-Test und danach direkt ins Hotelzimmer. «Ich habe die anderen Jungs erst um 15.00 Uhr gesehen, als ich in den Mannschaftsbus gestiegen bin», erzählte der Keeper vom Bundesliga-Aufsteiger HSV Hamburg.
Trotz der kurzen Nacht war Bitter auf dem Parkett hellwach. Musste er auch sein. Denn nach Andreas Wolff saß auch Till Klimpke in Quarantäne und die ebenfalls als Ersatz angefragten Joel Birlehm und Silvio Heinevetter standen aus privaten beziehungsweise gesundheitlichen Gründen nicht zur Verfügung. Bitter war also plötzlich der einzige Torhüter im nach neun positiven Corona-Fällen auf 14 Mann geschrumpften DHB-Kader. «Es ist sicher noch nicht oft passiert, dass die ersten vier Torhüter ausfallen und dann der fünfte kommt und spielt», sagte der Routinier. «Es ist eine verrückte Situation.»
Erst am Mittwoch fliegt aus Deutschland Unterstützung ein – dann stößt Daniel Rebmann als zweiter Torwart zum Team, das zum Auftakt der Hauptrunde am Donnerstag auf Titelverteidiger Spanien trifft. «Das ist eine der abgezocktesten Mannschaften die es gibt», sagte Bundestrainer Alfred Gislason über den hochkarätigen Gegner.
Situation schweißt zusammen
Nach dem couragierten Auftritt gegen Polen ist Bitter vor der Herausforderung nicht bange. «Ich habe eine Mannschaft gesehen, die einen geilen Spirit in der Abwehr hatte, die super gearbeitet und sich gut unterstützt hat», lobte er seine Vorderleute. «Ich glaube, der Druck ist jetzt für die Mannschaft komplett weg, nach dem, was alles passiert ist.»
Darauf hofft auch Gislason. «Ich denke schon, dass eine solche Extremsituation die Mannschaft besonders zusammenschweißt», sagte der 62 Jahre alte Isländer mit Blick auf die zweite Turnierphase. Dort sind neben Spanien der WM-Zweite Schweden, der Olympia-Dritte Norwegen und Russland die weiteren Gegner.
Die deutsche Mannschaft nimmt nicht nur 2:0 Punkte mit, sondern auch viel Selbstvertrauen. Zunächst heißt es aber weiter: Schotten dicht! Denn die Gefahr weiterer Ansteckungen ist nicht gebannt. «Es ist sicher vernünftig, sich zurückzuziehen», sagte Bitter. «Da müssen wir noch ein, zwei Tage durch, um die Infektionskette zu durchbrechen.»