Vorstandschef Mark Schober verkündete am Ende eines erneut turbulenten Tages die wichtigste Nachricht: Trotz weiterer Corona-Fälle werden sich die deutschen Handballer nicht von der Europameisterschaft zurückziehen.
«Wir haben intensiv diskutiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir es verantworten können, im Turnier zu bleiben», sagte Schober am späten Mittwochabend. Einige Stunden zuvor hatte Bundestrainer Alfred Gislason die nächste Schock-Nachricht bei der Endrunde in Ungarn und der Slowakei erhalten. Vor dem Klassiker gegen Spanien zum Auftakt der EM-Hauptrunde gab es im DHB-Team vier weitere Corona-Fälle. Betroffen waren die Rückraumspieler Sebastian Heymann, Djibril M’Bengue und Christoph Steinert sowie ein Mitglied des Funktionsteams.
Kein Rückzug von der EM
Danach glühten die Drähte. Der Verband erörterte mit dem Dachverband EHF und der Handball-Bundesliga die sich stetig verschärfende Lage. Am Ende entschied sich der DHB laut Schober «nach medizinischen, sportlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten» gegen einen möglichen Rückzug von der Endrunde.
Immerhin wurde eine mögliche Verlegung des Duells mit dem Titelverteidiger am 20. Januar (18.00 Uhr/ARD) in Bratislava erörtert – vorerst ohne Entscheidung. Für die Partie füllte Gislason den dezimierten Kader mit den drei Nachrückern Lukas Stutzke, David Schmidt und Tobias Reichmann auf.
Doch wie lange geht das noch gut? Die Zahl der positiv getesteten DHB-Spieler bei der Endrunde hat sich mittlerweile auf zwölf erhöht. Elf Spieler wurden nachnominiert. Das hat auch die Bundesliga in Alarmstimmung versetzt. «Das ist das, was wir am meisten gefürchtet hatten – aber durchaus auch das, womit man rechnen musste», sagte Liga-Boss Uwe Schwenker der Deutschen Presse-Agentur. «Es macht natürlich keinen Sinn, jeden Tag drei bis fünf Spieler aus der Bundesliga nachzunominieren, wenn neue Fälle auftreten.»
Gislason: «Frustrierend»
Vor Ort ist der Verband darum bemüht, die irrwitzige Situation so gut es geht zu meistern. Gislason verfolgte die lockeren Übungen seiner dezimierten Schützlinge mit stoischer Gelassenheit. Wie es in dem 62 Jahre alten Isländer wirklich aussieht, konnte man nur erahnen. «Die Explosion der Corona-Fälle ist natürlich frustrierend für uns alle, nicht nur für mich», sagte der Bundestrainer am Mittwochvormittag. Da waren die jüngsten Fälle noch gar nicht bekannt.
Das Abschlusstraining am Nachmittag sollte für die Mannschaft eigentlich eine willkommene Abwechslung vom trostlosen EM-Alltag sein. Endlich raus aus den Hotelzimmern, in denen die Gislason-Schützlinge die meiste Zeit des Tages mit dem Warten auf die neuesten Corona-Testergebnisse verbringen müssen. «Wir hängen den ganzen Tag isoliert in unseren Zimmern herum. Es ist eine sehr absurde Situation», beschrieb Gislason die außergewöhnlichen und teilweise extremen Umstände.
Noch drastischer drückte es Rückraum-Ass Steinert aus: «Das ist wie Einzelhaft.» Aus der gibt es für den 32-Jährigen nun vorerst kein Entrinnen mehr. Steinert, der beim 30:23-Sieg gegen Polen im Vorrundenfinale mit neun Toren bester DHB-Werfer gewesen war, hatte das Unheil schon erahnt. «Wir sind so stringent in dem, was wir tun, dass ich mir nur schwer vorstellen kann, dass da noch etwas passiert. Aber sicher sind wir alle nicht. Ich bin der Meinung, das ist Glücksspiel», hatte der Profi vom HC Erlangen nach dem Polen-Spiel erklärt. Wenige Stunden danach war sein persönlicher EM-Traum brutal geplatzt.
Gegen Spanien «krasser Außenseiter»
Der sportliche Aspekt des Spiels gegen Spanien rückte mit einem Schlag völlig in den Hintergrund. Ob die Mannschaft den immer neuen Tiefschlägen weiter trotzen kann, ist äußerst fraglich. Auch wenn Gislason nach dem Sieg gegen Polen erklärt hatte: «Ich denke schon, dass eine solche Extremsituation die Mannschaft besonders zusammenschweißt.»
Im Duell mit den Spaniern stehen seine Schützlinge aufgrund der akuten personellen Schwächung vor einer kaum zu bewältigenden Aufgabe. «Das ist eine der abgezocktesten Mannschaften, die es gibt. Die haben eine sehr starke Abwehr mit super Torhütern und machen kaum technische Fehler. Wir sind krasser Außenseiter», sagte Gislason.
Vom ursprünglichen EM-Aufgebot sind nur noch Philipp Weber, Patrick Wiencek, Julian Köster, Lukas Zerbe, Simon Ernst und Kapitän Johannes Golla übrig. Immerhin trafen am Mittwoch die Nachrücker Daniel Rebmann und Patrick Zieker im EM-Spielort ein. Nicht beim Training dabei war neben dem Corona-Trio auch Linksaußen Rune Dahmke. Keine Option ist Julius Kühn, dessen PCR-Test am Mittwoch nicht wie erhofft negativ ausfiel.
Irrwitzige Situation
An eine normale Vorbereitung der völlig neu zusammengewürfelten DHB-Truppe ist nicht zu denken. Und die Ungewissheit bleibt im Hinterkopf der Spieler. Wer gerade noch große EM-Pläne geschmiedet hat, kann im nächsten Moment schon in Quarantäne sitzen. Eine geradezu irrwitzige Situation, die die Gislason-Schützlinge vor allem mental an ihre Grenzen bringt.
Am Handy, Laptop oder Fernseher versuchen sie, sich so gut es geht von der Corona-Krise abzulenken. Der Wunsch, den Spielmacher Weber am Dienstagabend geäußert hatte, wird sich aber nicht mehr erfüllen: «Wir hoffen, dass wir jetzt alle gesund durch das Turnier kommen und eine schöne Hauptrunde haben.» Dort warten auf die DHB-Auswahl fast nur Hochkaräter. Gut 24 Stunden nach dem Spanien-Spiel geht es am Freitag schon gegen den EM-Dritten Norwegen weiter. Es folgen die Duelle mit dem WM-Zweiten Schweden und Russland. Doch das ist längst nur noch Nebensache.