Beim Gedanken an Alpe d’Huez gerät Lennard Kämna ins Schwärmen. «Das ist ein historischer Anstieg. Ich bin dort als Jugendlicher hochgefahren, jetzt freue ich mich, es als Profi zu machen», sagt Kämna.
Bis es bei der 109. Tour de France auf die Königsetappe in das Skiresort geht, muss sich das deutsche Rundfahrtalent noch ein wenig gedulden. Das Spektakel steht erst am 14. Juli auf dem Programm. Vielleicht hat er bis dahin schon sein Ziel erreicht und eine Etappe gewonnen.
«Ich bin sehr motiviert und in guter Form», betont Kämna vor dem Start der Rundfahrt in Kopenhagen. «Ich habe keine bestimmte Etappe im Sinn, aber es gibt viele gute Chancen für Ausreißer. Ich werde es definitiv versuchen.» So wie schon beim Giro, als Kämna die schwere Etappe auf dem Ätna gewann und sich nach seinem schweren und von mentalen Problemen begleiteten Jahr 2021 endgültig zurückmeldete.
Entdeckung der Saison
Obwohl Kämna bereits 2020 eine Tour-Etappe gewonnen hat, ist er so etwas wie die Entdeckung der Saison. Denn dass der Norddeutsche überhaupt noch einmal als Radprofi unterwegs ist, stand lange auf der Kippe. Erst ein Mountainbike-Trip nach Südafrika, auf den ihn Teamchef Ralph Denk schickte, weckte die Lust in Kämna wieder. «Ich bin stolz, dass wir ihm wieder den Spaß am Radsport vermitteln konnten», sagt Denk.
Und weil Kämna direkt starke Ergebnisse und spektakuläre Fluchten liefert, hat auch sein Team Bora-hansgrohe Spaß. Kurz vor Beginn der Tour wurde der Vertrag mit dem immens talentierten Rundfahrer vorzeitig verlängert. Bei der Tour soll der 25-Jährige Bora-Kapitän Alexander Wlassow in den Bergen unterstützen, wird aber wie schon beim Giro Freiheiten bekommen.
Diese sind offenbar wichtig für Kämna, um sein volles Potenzial entfalten zu können. «Er ist ein Stück weit ein Freigeist», sagt Denk und berichtet vom ersten Zeitfahren des Giro d’Italia, bei dem Kämna überraschend Platz acht belegte: «Das hat er aus dem Hut gezaubert. Er hat sich die Strecke kaum angeschaut und war ohne Funkverbindung. Er wollte das freestyle fahren.»
Meister im Zeitfahren
Am vergangenen Samstag sicherte sich Kämna erstmals den deutschen Meistertitel im Zeitfahren. Als Kandidat für den Sieg im Auftaktzeitfahren der Tour über 13,2 Kilometer am Freitag in Kopenhagen sieht er sich dennoch nicht. «Da sind die Zeitfahrspezialisten dran, auf diesem Level bin ich noch nicht. Ich schaue mal, wo ich lande», sagt der frühere Junioren-Weltmeister im Kampf gegen die Uhr.
Der Etappensieg bleibt das große Ziel. Womöglich, weil ihn persönlich viel mit der Tour verbindet. Nach seinem Etappensieg in Villard-de-Lans 2020 rutschte Kämna nach und nach in ein Stimmungsloch, das ihn fast die Karriere gekostet hätte. «Sobald es Schwierigkeiten gibt, habe ich Probleme, mir Befriedigung abseits des Sports zu holen. Ich habe es verpasst, mich für andere Dinge zu öffnen, andere Interessen zu entwickeln. Ich habe mein Leben falsch gelebt», sagte Kämna einmal dem «Weser Kurier».
Heute mag er nicht mehr über diese Zeit sprechen. Sein Blick geht verständlicherweise nach vorn und Kämna scheint seine Probleme überwunden zu haben. Für ihn und auch den deutschen Radsport ist das eine gute Nachricht. Denn Fahrer seiner Klasse gibt es hierzulande nicht mehr viele.