Überflieger Alcaraz will neue Tennis-Ära prägen

Nach seinem historischen Coup warf Carlos Alcaraz einen verschmitzten Blick auf den begehrten Silberpokal neben ihm und träumte davon, in ferner Zukunft sein großes Idol Rafael Nadal einzuholen.

«Ich habe einen, er hat 22 – ich bin an der Reihe», sagte der spanische Tennis-Jungstar breit grinsend. Bis zum Grand-Slam-Rekordsieger fehlt dem Ausnahmetalent zwar noch etwas, aber der Anfang ist gemacht – und wie!

Marathon-Mann, Titel-Debütant, Rekord-Jäger – für Alcaraz waren die US Open ein Turnier der Superlative. Mit einem perfekten Abschluss: Durch das 6:4, 2:6, 7:6 (7:1) und 6:3 im Finale in der Nacht zu Montag gegen den Norweger Casper Ruud gewann der 19-Jährige nicht nur seinen ersten Grand-Slam-Titel. Er kürte sich auch zur jüngsten Nummer eins, die es je im Männer-Tennis gab.

Presse feiert neuen Star

In der Heimat huldigten die Medien schon: «Carlos I., der neue König des Tennis», schrieb die Zeitung «Marca». Für «El País» steht fest: «Er ist noch im Alter der Selbstfindung. Er hat Kräfte, die er noch nicht kennt, Schläge, von denen er noch nicht weiß, dass er sie ausführen kann, Sprints, die er für unmöglich hält.» Und selbst Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez twitterte: «Glückwunsch Carlitos.»

Der erste Teenager an der Spitze der Weltrangliste will eine neue Ära prägen. Er sei «hungrig auf mehr» und wolle «hoffentlich für viele Jahre» die Nummer eins bleiben. Sein Trainer Juan Carlos Ferrero glaubt, sein Schützling habe gerade mal «60 Prozent» seines Potenzials ausgeschöpft. Auch Nadal, der seinem 17 Jahre jüngeren Landsmann als einer der Ersten via Twitter gratulierte, glaubt, «es werden noch viele weitere Höhepunkte» für den Youngster folgen.

Davon geht die ganze Tennis-Welt aus. Dass Alcaraz die Zukunft gehören dürfte, ahnten alle. Doch bei den US Open stellte sich heraus, dass er schon die Gegenwart bestimmen kann. «Er ist im Moment der beste Spieler der Welt», sagte Ruud (23). Die beiden Finalisten stellen die jüngste Nummer eins und zwei der Weltrangliste seit Jimmy Connors und Björn Borg vor 47 Jahren. Dazu kommen die in New York ebenfalls stark auftrumpfenden Jannik Sinner aus Italien und Frances Tiafoe aus den USA. Bei den US Open fand für alle sichtbar ein Generationswechsel statt. Ob Nadal, Novak Djokovic und vor allem Roger Federer das Tempo der Jungstars noch mitgehen können, bleibt abzuwarten.

Meilensteine gesetzt

Alcaraz setzte schon bei den US Open Meilensteine. In seinen sieben Spielen stand er insgesamt 23 Stunden und 40 Minuten auf dem Platz – so lange wie kein anderer Grand-Slam-Spieler seit der offiziellen Zeitmessung 1999. Der letzte, der mit drei Fünfsatzsiegen zum Titel bei den US Open stürmte, war der Schwede Stefan Edberg vor 30 Jahren.

Diese Power musste Alcaraz aber erst antrainiert werden. Als 14-Jähriger sei er «so dünn wie ein Spaghetti» gewesen, veranschaulichte sein Trainer: «Er hatte überhaupt keine Muskeln.» Die Kraftreserven kämen aber auch von innen heraus, meinte Alcaraz: «Du musst auf dem Platz alles lassen, was in dir steckt. Das ist nicht die Zeit, um müde zu sein.»

Im Privatleben ist der Spanier demütig und bescheiden – auf dem Platz das komplette Gegenteil. Er spielt immer aggressiv, voller Energie und pusht sich nach fast jedem Ballgewinn – gerne auch mit dem Spruch: «Ich bin ein Stier!»

Typ Nadal

Alcaraz verehrt den Spielertypen Federer, doch sein eigener Stil ähnelt eher dem von Nadal. Tempo, Kraft, Präzision, Spielwitz, Ausdauer – schon in jungen Jahren vereint Alcaraz fast alles. In manchen Szenen ist ihm sein jugendliches Ungestüm noch anzumerken, doch Fehler nach zu riskanten Schlägen lächelt er wie in seinem ersten Grand-Slam-Finale meist weg.

Durch seinen enormen Einsatz verschleißt er bei jedem Turnier mehrere Paar Schuhe. Das kann er allein schon wegen des Siegerchecks in Höhe von 2,6 Millionen US-Dollar verschmerzen. Doch Geld ist nicht der Antrieb des Carlos Alcaraz. Er träumt von weiteren Pokalen und einer langen Ära als Nummer eins. Daran glaubt man auch in der Heimat: «Das war erst der Anfang», schrieb die Zeitung «La Vanguardia» aus Barcelona.

Von Jörg Soldwisch, dpa