«Glücklich und stolz»: England glänzt ohne bunte Binde

Am Ende eines hochemotionalen Fußball-Tages herzten sich Jude Bellingham und Gareth Southgate innig. Zu verarbeiten gab es für den 19 Jahre jungen Torschützen von Borussia Dortmund und Englands Nationaltrainer nach dem 6:2 (3:0)-Sieg über Iran beim WM-Auftakt einiges.

Erst der kurzfristige und erzwungene Verzicht der symbolträchtigen bunten Kapitänsbinde, dann ein WM-Rekordstart mit sechs eigenen Toren und jede Menge Turbulenzen innerhalb weniger Stunden.

«Das ist ein richtig guter Tag für uns. Sechs Tore bei einer WM sind absolut beeindruckend», sagte Bellingham, der bei seinem WM-Debüt direkt das erste Länderspiel-Tor erzielte und das Torfest mit seinem 1:0 einleitete. Die Debatten über die «One Love»-Binde wirkten zu diesem Zeitpunkt, als mit dem Hit «Sweet Caroline» aus den Boxen und «God Save the King» von den Rängen gefeiert wurde, schon kurz verdrängt.

«Wir freuen uns sehr, so ins Turnier zu starten»

Die Three Lions mit Kapitän Harry Kane, der nach angekündigten Sanktionen der FIFA doch nicht die umstrittene Binde für Vielfalt am Arm hatte, waren in Al-Rajjan so deutlich wie nie in ihrer Geschichte in eine WM gestartet und wiesen so eindrucksvoll ihre Ambitionen auf den Titel nach. «Wir brauchten diesen guten Start», sagte Doppel-Torschütze Bukayo Saka der BBC: «Es wurde viel über unsere Form geredet und spekuliert, aber wir haben allen gezeigt, wie viel Qualität wir haben und was wir können. Ich bin so glücklich und so stolz.» Der verkappte Spielmacher Kane, Saka und Bellingham spielten herausragend.

«Wir freuen uns sehr, so ins Turnier zu starten. Ein großes Lob an unsere Spieler, vor allem unsere Offensive. Wir müssen noch besser sein als heute, zumindest in manchen Aspekten», lobte Southgate, der nach sechs sieglosen Nations-League-Spielen zunehmend in die Kritik geraten war. Das erste Achtungszeichen beim größten Turnier der Welt dürfte auch für den 52 Jahre alten Ex-Profi eine große Erleichterung sein. Vor 45 334 Zuschauern, von denen einige wegen Problemen mit der Ticket-App zu spät ins Stadion kamen, trafen Bellingham (35. Minute), Saka (43./62.), Raheem Sterling (45.+1), sowie die Joker Marcus Rashford (71.) und Jack Grealish (90.).

Für England war es der erste Sieg seit März, im Sommer gelang in sechs Nations-League-Partien kein einziger Erfolg. Mehr als zwei Tore durch Mehdi Taremi (65./90.+13/Foulelfmeter) waren für Iran nicht drin. Gleich zweimal gab es aufgrund zahlreicher Unterbrechungen mehr als zehn Minuten Nachspielzeit.

Die zahlreichen politischen Debatten in dem aufgeladenen Spiel ließ England gekonnt und routiniert hinter sich. «Das ist ein großer Start für uns. Das ist genau das, was wir wollten. Es gibt weiter Dinge, an denen wir arbeiten müssen», befand Mason Mount, der den Vorzug vor Phil Foden als offensiver Mittelfeldspieler erhielt. Den Takt in der Mitte gab aber BVB-Jungstar Bellingham an. «Gareth hat gesagt, wir sollen das genießen. Dieser Sieg nimmt einigen Druck von uns», sagte der Dortmunder Schlüsselspieler.

Das Spiel stand stark unter politischen Gesichtspunkten

Das Spiel stand schon vor Anpfiff im Chalifa International Stadion, in dem 2019 auch die Leichtathletik-WM stattfand, stark unter politischen und symbolischen Gesichtspunkten. Während England sein Signal nicht senden konnte, waren die des Außenseiters aus Asien umso sichtbarer – allerdings in ganz anderer Sache. Einige iranische Fans zeigten ihre Solidarität mit den Protesten im Heimatland, indem sie Shirts mit der Aufschrift «Frauen, Leben, Freiheit» trugen. Der Iran wird seit Wochen von den schwersten Protesten seit Jahrzehnten erschüttert. Der Tod einer jungen Frau im Polizeigewahrsam hatte diese ausgelöst, der Sicherheitsapparat reagierte mit Härte. Bei der Hymne schwiegen die iranischen Spieler, die Fans machten zusätzlich Lärm – auch das wird als Protest verstanden.

Der Sport und damit der erste Auftritt des Vize-Europameisters rückte lange Zeit an den Rand der Aufmerksamkeit. So auch nach etwa zehn Minuten, als Iran-Keeper Ali Beiranvand nach einem heftigen Zusammenstoß mit einem Mitspieler am Boden lag und behandelt werden musste. Nach einer Unterbrechung von insgesamt etwa zehn Minuten ging der Torhüter dann vom Feld, er wurde später für weitere Untersuchungen ins Krankenhaus gebracht.

Für Erleichterung sorgte dann Bellingham, der nach einer passgenauen Flanke von Luke Shaw überlegt ins lange Eck köpfte. Neben dem starken Dirigenten machten vor allem die Flügelspieler Saka und Sterling ordentlich Tempo – und auch die sehenswerten Tore, die Harry Maguire und Kane einleiteten. Das Spiel war zur Halbzeit entschieden, es ging in den zweiten 45 Minuten nur noch um die Höhe des englischen Auftakterfolgs. Saka wurde wieder gut bedient, zog von rechts nach innen und schob zum 4:0 ein. Taremis Doppelpack sowie die Jokertore Rashford und Grealish hatten auf den deutlichen Sieg der Engländer kaum noch Einfluss.

Patrick Reichardt, Jan Kuhlmann und Thomas Wolfer, dpa