Kimmich nach Aus: «Angst vor Loch» und WM-Wunde

Joshua Kimmich hätte es sich leicht machen können. Wie Leroy Sané. Wie Niklas Süle. Die alle wortlos gingen. Er hätte die Situation vermeiden können, wie Leon Goretzka, der zur Dopingprobe musste und deshalb einen anderen Ausgang nehmen konnte.

Joshua Kimmich stand gerade. Der Blick war konzentriert. Doch die Augen schimmerten verdächtig, wurden wässrig. Irgendwann war Joshua Kimmich ein Bild des Jammers. Ein Sinnbild des deutschen Fußball-Jammers.

«Wir fahren wieder nach Hause. Dementsprechend habe ich ein bisschen Angst davor, echt in ein Loch zu fallen», sagte Kimmich nach dem nutzlosen 4:2 gegen Costa Rica. Er wirkte eingepfercht zwischen den Stellwänden in der Interviewzone des Al-Bait-Stadions mit den künstlich in die Länge gezogenen WM-Schriftzügen. Cheer und Celebrate. Jubeln und Feiern, das waren jetzt die falschen Begriffe.

Kimmich fürchtet Makel an seiner Laufbahn

Kimmich wurde mit seinen offenen Worten nach dem zweiten schmerzhaften WM-K.o. seinem Image als Klassensprecher der deutschen Fußball-Generation 1995/96 gerecht. Einer Generation, die nach insgesamt drei vermasselten Titel-Anläufen um ihre Reputation kämpfen muss. Der Schmerz war bei dem 27-Jährigen so groß, dass er Sorgen artikulierte, die im Profi-Business ungewöhnlich sind.

«Für mich ist es echt, würde ich sagen, der schwierigste Tag meiner Karriere», sagte Kimmich. Die Heimreise im DFB-Sonderflieger. Der anstehende Urlaub, bevor es in wenigen Wochen mit dem FC Bayern ins Trainingslager geht – ausgerechnet zurück nach Katar. All das empfindet Kimmich gerade als Tortur.

Der Spannungsbogen deutete fast auf eine Kurzschlusshandlung hin. Ein Ende seiner DFB-Karriere schloss Kimmich dann aber doch ein wenig verdutzt ob der direkten Frage aus. «Nein», lautete die kurze Antwort. Ein Makel bleibt nun aber an seiner Laufbahn haften, befürchtet Kimmich. «Das ist schon für mich persönlich nicht so einfach zu verkraften. Weil ich persönlich mit dem Misserfolg in Verbindung gebracht werde», sagte er.

Kimmich wird sich sammeln müssen. Er ist als Anführer jetzt mehr denn je gefragt. Egal, ob Hansi Flick Bundestrainer bleibt oder nicht. Kimmich ist der logische Kapitän für die Heim-EM im Sommer 2024. Der Finaltag, 14. Juli, Berliner Olympiastadion. Das ist das neue Fixdatum.

Kimmich bleibt das «Gesicht der nahen Zukunft»

Kimmichs nächstes Länderspiel – frühestens im März 2023 – wird sein 75. sein. Im gescheiterten WM-Kader spielten nur Manuel Neuer (117) und Thomas Müller (120) häufiger für Deutschland. Ob sie weitermachen? Offen. Kimmich bleibt das Gesicht der nahen Zukunft. In einem Team, in dem jüngere Heroen wie Jamal Musiala (19), Youssoufa Moukoko (18) oder der bei der WM fehlende Leverkusener Florian Wirtz (19) längst bereitstehen.

Die Generation Kimmich, die sich in Katar krönen wollte, steht vor einem Rechtfertigungs-Dilemma. Im Klassenbuch bleibt nur der Gewinn des Confed Cups 2017 stehen. Danach multiples Turnier-Fehlverhalten. Dabei hatte doch zum Beispiel Süle das Selbstverständnis vor dem Turnierstart artikuliert. «Ich habe ihm gesagt, dass ich bei meiner zweiten WM jetzt mit 27 Jahren Verantwortung übernehmen will», berichtete der Dortmunder Verteidiger von einer Unterredung mit Flick vor dem Anpfiff in Katar. Den Beweis blieb er persönlich schuldig – und auch seine Altersgenossen.

2016 war Kimmich beim EM-Halbfinal-Aus in Frankreich noch Turnier-Azubi. Es folgten nach dem verheißungsvollen Confed Cup mit einer Nachwuchself 2017 der erste Gruppen-K.o. bei einer WM in Russland 2018, das EM-Aus im Achtelfinale 2021 und nun schon wieder ein massiver sportliche Tiefschlag für den ehrgeizigen Profi. «Ich bin 2016 dazugekommen, davor war Deutschland immer im Halbfinale. Dann kommt man dazu und scheidet zweimal in der Vorrunde aus, im letzten Jahr im Achtelfinale. Das ist nichts, wofür man stehen möchte», sagte Kimmich.

«Wunde wieder aufgekratzt»

Konkrete Defizite machte er offensiv wie defensiv aus – und sprach sie schonungslos an. «Wenn ich sehe, was wir heute an Torchancen liegen lassen, dann ist das nicht nur Pech, sondern auch sehr viel Unvermögen. Dazu bekommen wir sehr einfache Gegentore, ein Gegner muss nicht sehr viel investieren», sagte der zentrale Mittelfeldspieler, der gegen Costa Rica erstmals unter Flick zumindest in der ersten Spielhälfte auf der rechten Außenbahn aushelfen musste.

Nach dem WM-Aus sei durch das erneute Scheitern «die Wunde wieder aufgekratzt» worden. Die WM werde er nun aus München als Fernsehzuschauer nicht weiter verfolgen. «Man denkt, man könnte auch da spielen», berichtete er vom Schmerz, im TV WM-Fußball zu schauen. Bestenfalls Frankreich-Spiele werde er gucken, um den Bayern-Kollegen in der Équipe tricolore die Daumen zu drücken.

Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa