Die Trophäe schien eigentlich für Novak Djokovic reserviert. Wer soll den Tennisstar bei seiner ganz speziellen Titel-Mission bei den Australian Open ein Jahr nach dem Einreise-Wirbel stoppen? Der bereits ausgeschiedene Rafael Nadal schon mal nicht. Inzwischen ist klar, wer der größte Gegner von Djokovic ist: sein linker Oberschenkel. Und der ist für ihn unberechenbarer als jeder Kontrahent.
«Um ehrlich zu sein: Es ist überhaupt nicht gut», antwortete der Serbe unmittelbar nach seinem Zweitrundensieg gegen den Franzosen Enzo Couacaud im Eurosport-Interview auf die Frage, wie es seinem Oberschenkel gehe: «Es liegt an Gott, mir zu helfen.»
Verletzung keine Lappalie
Ist es wirklich so dramatisch? Nun, eine Lappalie sei die Verletzung jedenfalls nicht, versicherte Djokovic wenig später. «Ich bin besorgt», sagte er, «und ich habe Gründe, um besorgt zu sein.» Gegen Couacaud bewegte sich der 35-Jährige mit einem Tapeverband um den lädierten Oberschenkel nicht sehr rund, er nahm auch eine medizinische Auszeit. «Das sieht nicht gut aus. Ich hatte schon vor dem ersten Match gesagt: Er würde keine Bandage tragen, wenn er nichts hätte», urteilte sein Ex-Trainer Boris Becker bei Eurosport.
Seit zwei Wochen plagt sich Djokovic mit dem Problem, das im Melbourne Park schlimmer geworden zu sein scheint. Zwischen den Matches trainiere er gar nicht, um seinem Bein mehr Erholungszeit zu gönnen und dann «irgendwie» auf höchstem Niveau spielen zu können. «Es gibt zwei Möglichkeiten: es lassen oder weitermachen. Ich werde weitermachen», sagte er.
Nun gegen «Balkan-Bruder»
Am Samstag (19.00 Uhr Ortszeit/9.00 MEZ) kämpft der seit 2018 bei den Australian Open ungeschlagene Ausnahmekönner gegen den Bulgaren Grigor Dimitrow, den er seinen «Balkan-Bruder» nennt, um den Einzug ins Achtelfinale. Hoffnung zieht Djokovic aus der Erinnerung an seinen bislang letzten Triumph bei den Australian Open vor zwei Jahren. Damals quälte er sich trotz einer Bauchmuskelverletzung ins Finale, das er gegen den Russen Daniil Medwedew gewann.
Nichts anderes als den Gesamtsieg hat er auch jetzt vor. Mit dem 22. Grand-Slam-Triumph würde er mit Rekordhalter Nadal gleichziehen und ein Jahr nach seiner von ihm als völlig ungerecht empfundenen erzwungenen Ausreise aus Australien eine triumphale Rückkehr krönen. Becker ist skeptisch: «Jetzt hat er einen Tag frei, dennoch bleibt die Frage, ob er das Turnier mit so einer Verletzung realistisch gesehen gewinnen kann.»
Australien schließt Frieden mit Djokovic
Dass Australien mit dem Star nach dem Wirbel um eine fehlende Corona-Impfung bereits seinen Frieden geschlossen hat, bewies sein Auftaktmatch. Es gab Jubel und Applaus statt Pfiffe und Buhrufe – und eine Liebeserklärung von Djokovic: «Wenn ich einen Platz und eine Zeit aussuchen müsste, dann wäre es die Night Session hier in der Rod Laver Arena.»
Vielleicht bereute er diese Worte zwei Tage später bereits, als ihn im Duell gegen Couacaud eine kleine Gruppe von offensichtlich betrunkenen Männern mächtig nervte. Diese hätten vom ersten Punkt an versucht, «mich zu provozieren» und «in meinen Kopf kommen», beschwerte er sich beim Schiedsrichter. Wenig später wurde die kleine Gruppe rot-weiß gekleideter Männer mit Bommelmützen auf den Köpfen aus der Halle geführt.
Einen öffentlichen Streit führte Djokovic auch mit dem TV-Sender Eurosport, der berichtet hatte, der Serbe sei im Auftaktmatch mitten im Satz unerlaubt auf die Toilette gegangen. Djokovic wehrte sich bei Instagram gegen den Vorwurf und mahnte den Sender, «achtsamer» bei der Berichterstattung zu sein.
Diese Zwischenfälle deuten zumindest an, dass das Nervenkostüm von Djokovic angespannt ist. Um ihm den Rücken zu stärken, sind seine Eltern erstmals seit 15 Jahren wieder nach Down Under mitgereist. Damals hatte Djokovic seinen ersten von insgesamt 21 Grand-Slam-Titeln gewonnen. Sein Wunsch diesmal: «Hoffentlich bringen sie mir wieder Glück.»