Vor WM-Start: Oberdorfs Kampf mit den eigenen Ansprüchen

Die «ganz große Leere» verspürte Lena Oberdorf trotz des erfolgreichen Champions-League-Viertelfinales des VfL Wolfsburg damals gegen Paris Saint-Germain. Apathisch klatschte sie im März nach dem Abpfiff ihren Trainer Tommy Stroot ab.

«Mir hat das gar keinen Spaß mehr gemacht, das war wie so eine Pflichtaufgabe», erzählt die Nationalspielerin in einer Medienrunde vor der bevorstehenden Fußball-Weltmeisterschaft. Super talentiert, hoch eingeschätzt in jeder Hinsicht, vielfach ausgezeichnet. Wie geht eine 21-Jährige, zumal mit unbändigem Ehrgeiz und Einsatzwillen, damit auf Dauer um – ohne sich zu verlieren? Oberdorf spricht erstaunlich offen und reflektiert darüber.

Die Augen im deutschen Team, das am 24. Juli in Melbourne gegen Marokko in die WM in Australien und Neuseeland startet, sind dieser Tage im Quartier in Wyong nördlich von Sydney noch mehr als sonst auf die so wichtige defensive Mittelfeldspielerin gerichtet: Oberdorf plagt sich mit einer Muskelblessur im rechten Oberschenkel herum und muss erst mal langsam machen. Genau das, was der Vize-Europameisterin schwerfällt.

Ausgezeichnet, aber titellos

Damit zurechtzukommen, dass man nicht immer bei 100 Prozent ist und nicht immer 120 Prozent geben kann, das sei vielleicht ihr größter Entwicklungsschritt in der vergangenen Saison gewesen: «Dass man da einfach nicht zu viel von sich selbst erwartet. Und wenn’s mal kein gutes Spiel ist, dann ist es halt so.» Was man von Oberdorf kaum kennt.

Für Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg ist die Ex-Essenerin eine der Weltbesten auf der Sechser-Position. Ausgezeichnet als «Beste junge Spielerin» bei der EM 2022 in England und in der abgelaufenen Königsklassen-Saison. «Ich hätte lieber den Champions-League-Pokal gehabt und damals den EM-Titel», sagt Oberdorf nach zwei verlorenen Endspielen auf internationaler Bühne. Und das Viertelfinal-Aus bei ihrer ersten WM 2019 gegen Schweden in Frankreich nagt auch noch an ihr, da sie die dicke Chance zum 2:2 vergeben hatte.

Mit einem Marktwert in Höhe von geschätzt 350 000 Euro ist die Wolfsburgerin die mit Abstand am höchsten bewertete deutsche Spielerin. Und auch noch eine, die so geradlinig spricht, wie sie spielt: Oberdorfs Aussage «Frauenfußball, Männerfußball – es ist ein Fußball» wurde zum Fußballspruch des Jahres gekürt.

«Müssen auf mentale Gesundheit achten»

«Wir dürfen nicht unterschätzen, was für ein Hype entstanden ist und was das mit einem macht», sagt Voss-Tecklenburg mit Blick nicht nur auf Oberdorf und betont: «Umso mehr müssen wir auf diese mentale Gesundheit achten: Man muss nicht immer perfektionistisch unterwegs sein, sondern sich auch mal etwas gönnen. Wir sagen da schon mal: Lass diese vermeintliche Schwäche zu, die ja keine ist, sondern eine Stärke.»

Es helfe schon mal, dass Oberdorf das Vertrauen habe, «das mit uns zu besprechen und da gereift ist. Bei uns ist eine Konsequenz, dass wir Lena Oberdorf in vielen Phasen im letzten Jahr einfach rausgenommen haben. Nicht im Fußball, sondern vor allem bei Medienterminen.» So etwas öffentlich zu machen, helfe auch anderen Menschen: «Man kann nicht permanent funktionieren und auf hundert Prozent laufen. Das geht einfach nicht.» Auch nicht bei einer Powerfrau wie Lena Oberdorf.

Für die Sportlerin sind dann nicht nur die Bundestrainerin und Vereinsverantwortlichen wichtige Ansprechpartner. Vor allem ihre Freundin hilft ihr – «weil sie gar keinen Bezug zum Fußball hat. Sie arbeitet bei der Polizei». Eine meisterschaftsentscheidende Niederlage gegen den FC Bayern? «Da sagt sie: War doch nur ein Spiel. Nächste Saison ist ja wieder eine neue Liga. Ich so: Ja, eigentlich hat sie schon recht. Für mich ist das überragend, weil ich dann so ein bisschen aus diesem Trott komme, dass ich immer Leistung bringen muss.»

Von Ulrike John, dpa