Desaster: Flick nach 1:4 gegen Japan schwer angezählt

Hansi Flick verschwand erstmal in die Kabine, seine erneut von WM-Schreck Japan vorgeführten Spieler standen ratlos unter den Pfiffen der Fans auf dem Rasen. Nach einem 1:4 (1:2)-Desaster statt einem Neustart mit Vorfreude auf die EM im kommenden Jahr wird es für den 58 Jahre alten Bundestrainer richtig eng.

«Ich finde, wir machen es gut und ich bin der richtige Trainer», beharrte Flick nach der nächsten Demütigung für den deutschen Fußball. Er hob stattdessen die guten «Basics» des asiatischen Weltranglisten-20. hervor und forderte: «Wir im deutschen Fußball müssen einfach mal aufwachen und an diesen Dingen arbeiten.» Sein Fazit über den Zustand der Mannschaft des Weltmeister-Landes von 2014 und kommenden EM-Gastgebers: «Wir haben aktuell nicht die Mittel, um so eine kompakte Defensive zu überspielen.»

DFB-Präsident Bernd Neuendorf wollte sich erstmal nicht äußern. Dafür nahm Kapitän Ilkay Gündogan den Coach in Schutz und in die Mannschaft in die Pflicht. «Irgendwann ist es nicht die Trainerfrage, sondern die Mannschaft, die sich hinterfragen muss.» Es sei ein ganz bitterer Tag. «Man muss so ehrlich sein und sagen, dass die Japaner klar besser waren heute. Sie waren eigentlich in allen Belangen uns überlegen», sagte der Profi des FC Barcelona und Champions-League-Sieger mit Manchester City der vergangenen Saison. 

Flicks abermals veränderte Mannschaft präsentierte sich den schwer enttäuschten Fans in Wolfsburg über weite Strecken instabil, verunsichert und erschreckend hilflos. Am Dienstag gegen Frankreich brauchen der Bundestrainer und seine Spielern dringend den Befreiungsschlag – auch wenn der in dieser Verfassung gegen den Vizeweltmeister fast gar nicht mehr vorstellbar ist. 

Mit drei Niederlagen nacheinander und nur einem Sieg aus den vergangenen sechs Spielen ist die Bilanz verheerend für den EM-Ausrichter. Die Zuschauer quittierten den Auftritt neun Monate vor dem Heim-Turnier immer wieder mit lauten Pfiffen. «Ob man ihn jetzt noch halten kann, das bezweifle ich», sagte Rekordnationalspieler Lothar Matthäus als RTL-Experte über Flick. «Wir sind eine Fußball-Nation, aber wir zeigen es nicht.» 

Fehler in der neuformierten Abwehr

Den Gegentoren durch Junya Ito (11. Minute) und Ayase Ueda (22.) in der ersten Halbzeit gingen klare Fehler der neu formierten Abwehr vor 24 980 Zuschauern voraus, ebenso beim dritten Japan-Treffer durch WM-Torschütze Takuma Asano (90.) und dem Schlusspunkt durch Ao Tanaka (90.+2). 

Das Experiment mit Joshua Kimmich als in den Spielaufbau einrückender Rechtsverteidiger und Nico Schlotterbeck auf der linken Seite war gescheitert, ehe es richtig angefangen hatte. Der zwischenzeitliche Ausgleich durch Leroy Sané (19.) brachte keine Sicherheit. Japan hätte früh mehr Tore erzielen können, Torwart Marc-André ter Stegen zeigte mehrere gute Paraden. 

Von Flicks in den Tagen zuvor in Wolfsburg ausgestrahlter Gelassenheit, seinem Optimismus und seiner Zuversicht war schon nach turbulenten gut 20 Minuten nichts mehr zu spüren. Am Spielfeldrand stand er da und seine Miene glich einer Mischung aus Wut und Entsetzen. Und die Fans, die so sehr auf eine stabilere deutsche Mannschaft gehofft hatten, mochten es auch kaum glauben: 1:2 stand auf der Anzeigentafel. So spielt also die von Flick angekündigte «Kernmannschaft» für die Heim-EM?

290 Tage nach der Schmach gegen die Japaner im Khalifa Stadion von Katar und dem auch daraus resultierende peinlichen Vorrundenaus attackierten die Asiaten die Viererkette mit Kimmich auf rechts in vorderster Front. Schon in der ersten Minute leistete sich daraufhin Torwart ter Stegen einen Fehlpass, der aber folgenlos blieb.

Die deutsche Mannschaft wirkte völlig verunsichert, Flicks Experiment ging überhaupt nicht auf. Kimmich sollte sich bei Ballbesitz ins Aufbauspiel einschalten – das führte in der ersten Halbzeit aber öfter dazu, dass sich die DFB-Profis im Mittelfeld auf den Füßen standen. Einzige Ausnahme: Der Leverkusener Florian Wirtz sorgte ab und an für Entlastung.

Statt mit einer frühen Führung den Neuanfang in Wolfsburg erfolgreich zu gestalten nach den enttäuschenden Ergebnissen auch im Juni, geriet die deutsche Mannschaft in Rückstand: Auf der linken Defensivseite ließ Schlotterbeck Yukinari Sugawara ohne große Gegenwehr flanken, in der Mitte nahm Ito den Ball direkt. Abgefälscht von Antonio Rüdiger landete er im Tor. Ter Stegen bekam im kurzen Eck die Hand nicht mehr so schnell nach oben. 

Für kurze Zeit konnte Sané mit seinem flachen Schlenzer nach feiner Vorarbeit über Kimmich, den aber ansonsten unauffälligen neuen Kapitän Ilkay Gündogan und Wirtz den deutschen Bundestrainer beruhigen. Aber halt nur kurz, weil erneut Schlotterbeck zu nachlässig war. Wieder leistete Sugawara mit einer Hereingabe die Vorarbeit, in Billard-Manier ging’s über Ito und Ueda ins deutsche Tor. 

Pfiffe von der Tribüne

Das Bemühen war der Mannschaft nicht abzusprechen, aber wenn, waren es meist Einzelaktionen der Aktivposten Wirtz und Sané. Japan blieb allerdings weiter brandgefährlich und hätte in der 41. Minuten beinahe das dritte Tor bejubelt: Nach einem Fehlpass von Schlotterbeck in Richtung Rüdiger lief Ueda allein aufs deutsche Tor zu. Ter Stegen verhinderte diesmal noch Schlimmeres. «Das war’s», sagte der Stadionsprecher zum Ende einer als Werbung in eigener Sache unbrauchbaren ersten Hälfte. Von den Zuschauerrängen gab es laute Pfiffe.

Flick verzichtete auf einen Wechsel in der Pause. Am Geschehen auf dem Platz änderte sich aber auch nichts. Wie schon zu Spielbeginn unterlief ter Stegen ein Fehlpass, Ito schoss aber vorbei. Zu uninspiriert, zu unsauber, zu unpräzise agierten die Gastgeber im Spielaufbau, immer wieder erkämpften sich Japaner die zweiten Bälle. Ter Stegen musste nach einem erneuten Schlotterbeck-Patzer klären.   

Nach einer guten Stunde hatte Flick ein Einsehen und wechselte den BVB-Profi aus, ebenso den auch schwachen Emre Can, für den Pascal Groß von Brighton & Hove Albion kam und so sein Auswahldebüt unter schweren Bedingungen erlebte. Auf links sollte der Neu-Unioner Robin Gosens für mehr Ordnung als Schlotterbeck sorgen. Doch es wurde zu einem Komplett-Desaster mit zwei weiteren späten Japan-Toren. 

Von Jan Mies, Klaus Bergmann und Jens Marx, dpa