Herzschlagtest ohne ter Stegen

Julian Nagelsmann blinzelte gegen das viel zu grelle Scheinwerferlicht. Die Nachricht, die er an seinem großen Sehnsuchtsort verkünden musste, missfiel dem Bundestrainer massiv. Bei seiner Heimpremiere mit dem Herzschlagtest gegen die Türkei fehlt dem DFB-Chefcoach plötzlich die Nummer eins. Marc-André ter Stegen fällt wegen großer Rückenschmerzen nicht nur am Samstag (20.45 Uhr/RTL) aus, sondern auch am kommenden Dienstag in Österreich. Im Tor gegen die Türkei dürfte nun Kevin Trapp zum Einsatz kommen. Oliver Baumann und Janis Blaswich, die weiteren Alternativen im Kader, haben noch nie für Deutschland gespielt. 

Neuer wird nicht nachnominiert

Die Nachricht von den DFB-Ärzten zum Torwart-Aus kam so knapp vor der Pressekonferenz der Fußball-Nationalmannschaft, dass Nagelsmann noch gar nicht zu einer Entscheidung über die Neu-Besetzung des wichtigen Postens gekommen war. Eine Nachnominierung von Manuel Neuer stehe aber nicht zur Debatte, machte der 36-Jährige klar. 

Der Bayern-Schlussmann hatte auf eine Nominierung nach seiner mehr als zehnmonatigen Pause für die finalen EM-Tests 2023 noch verzichtet. An der spielerischen Ausrichtung werde sich durch ter Stegens Ausfall nichts ändern. «Wir werden jetzt nicht anfangen, die Bälle nach vorne zu knüppeln», sagte Nagelsmann.

Bundestrainer freut sich auf Emotionen im Stadion

Gleich nach der Ankunft in Berlin hatte Nagelsmann noch die besondere Energie am Endspielort der Heim-EM gespürt. Unweit des Teamhotels am Marlene-Dietrich-Platz im Herzen der Hauptstadt wurde demonstriert. Sicherheitsvorkehrungen waren im nahen Regierungsviertel auch wegen des parallelen Besuchs des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan getroffen. Berlin vibriert immer. Und Nagelsmann tut das auf sportliche Weise auch. 

«Es ist ja immer schön, wenn du diese Emotionalität auf den Rängen spürst. Wir freuen uns auch, wenn die deutschen Fans laut mitgrölen und den türkischen Fans auf der Tribüne Kontra bieten, das ist klar», sagte Nagelsmann vor dem nächsten EM-Härtetest. In 239 Tagen will der Bundestrainer dann wieder im Olympiastadion sein – 14. Juli 2024. EM-Finale. Einen besseren Ort für sein erstes Heimspiel als DFB-Chefcoach hätte sich der 36-Jährige also kaum wünschen können. «Es ist ein weiter Weg zum Finale. Wir versuchen morgen einen kleinen Schritt zu machen», sagte Nagelsmann. 

Wenige Stunden nach der Landung am BER südöstlich der Stadt ging es am Freitag zur ersten Inspektion in die Final-Arena. Abschlusstraining und letzter Feinschliff. Schon an drei Übungstagen auf dem DFB-Campus in Frankfurt hatte Nagelsmann sein November-Motto verdeutlicht. Die Nationalmannschaft muss nach dem Mutmacher-Start mit neuem Chefcoach in den USA im Oktober jetzt auch die notwendige Turnier-Stabilität bekommen. 

Defensive als Knackpunkt

«Wir müssen in der Defensive variabler werden. Wir versuchen, uns mannschaftstaktisch weiterzuentwickeln, dass wir insgesamt weniger Torgefahr zulassen», erklärte Nagelsmann seine zweite EM-Lektion für den offenbar von seinen Rückenschmerzen gerade noch rechtzeitig befreiten Mats Hummels und dessen Kollegen. Die beste Art zu verteidigen sei weiterhin, «die Murmel nicht zu verlieren.»

Ohne Gegentor blieb Deutschland in diesem Jahr in bislang neun Länderspielen nur beim 2:0 im März gegen Peru. In den acht weiteren Spielen lag der Gegentore-Schnitt über zwei pro Partie – zu viel für Titelambitionen. «Ja, wir wissen natürlich, dass wir noch einige 
Schritte nach vorn machen müssen bis nächsten Sommer, aber das traue ich uns und auch voll und ganz zu», sagte Ilkay Gündogan. 

Für den DFB-Kapitän ist das erste Länderspiel gegen das Land seiner Vorfahren natürlich ein Karriere-Highlight. «Ich hoffe auf ein großartiges Fußballfest. Ich bin mir sicher, dass beide Mannschaften extrem motiviert sein werden und es kaum eine Rolle spielen wird, dass es sich nicht um ein Pflichtspiel handelt. Beide Mannschaften werden zeigen wollen, dass sie bereit sind für die EM nächstes Jahr», sagte der 33-Jährige der Deutschen Presse-Agentur.

Keine Statements zur Politik

Jede politische Konnotation vermied Gündogan. Die von außen herangetragenen Themen wie die Erinnerung an die Erdogan-Fotos vor gut fünf Jahren oder die aktuelle politische Brisanz durch den Gaza-Krieg dürfen für alle Nationalspieler nicht in den Mittelpunkt rücken und für Gündogan erst recht nicht. «Der Sport steht im Mittelpunkt. Der ehrliche, harte Wettkampf», sagte Nagelsmann. 

Offiziell sagt es niemand, aber heilfroh ist man beim DFB, dass Erdogan nach seinen Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinen Berlin-Besuch nicht mal eben verlängert und am Samstagabend medienwirksam im Olympiastadion sitzt. Das hätte den Fokus vom Sportlichen mal wieder massiv abgelenkt.

Die erwartete Auswärtsspiel-Kulisse mit Zehntausenden türkischen Fans spornt Nagelsmann hingegen richtig an. Auch Leon Goretzka gefällt die spezielle Atmosphäre. «Extrem beeindruckend» nannte der Bayern-Profi die Leidenschaft der Gäste-Fans. Widerstände tun dem DFB-Team im EM-Vorlauf sicherlich gut. Komfortzonen hat Nagelsmann ohnehin mit einem straffen, taktisch anspruchsvollen Trainingsprogramm abgeschafft. 

Die auf dem DFB-Campus eingespielte Musik zum Aufwärmen ist ein Mosaik der neuen Kultur beim Nationalteam. Vieles ist unter Nagelsmann lockerer geworden. Vieles wirkt aber auch viel stringenter und fokussierter. «Unsere Ziele werden wir erreichen, wenn wir jetzt besser werden», postulierte Torgarant Niclas Füllkrug die Mentalität. 

Kimmich muss liefern

Ist Hummels‘ Rücken stabil genug für den Startelf-Einsatz? Das ließ Nagelsmann noch offen. Klar ist: Hinten rechts wird der Leipziger Benjamin Henrichs verteidigen. Joshua Kimmich ist für Nagelsmann doch eher ein Sechser. Er soll nach seinem Fieber-Ausfall im Oktober in der Zentrale wieder neben Gündogan als Lenker ran. 

Der Druck für den Bayern-Profi mit Führungsanspruch ist auch im möglichen 81. Länderspiel existent. In seiner Abwesenheit funktionierte der bescheidene Ersatzmann Pascal Groß gegen die USA (3:1) und Mexiko (2:2) dort ganz famos. Funktioniert das Duo Kimmich/Gündogan am Samstag nicht, ist die Debatte um die Rollenverteilung programmiert.

Gesucht wird auch noch ein Platzhalter für den verletzten Jamal Musiala auf der offensiveren Mittelfeldposition neben Florian Wirtz. Dessen Bayer-Kollege Jonas Hofmann hat im Vergleich zu Arsenals Kai Havertz derzeit einen klaren Formvorsprung.

Arne Richter und Jan Mies, dpa