Ullrichs Dopingbeichte zwischen den Zeilen

Nach fast zwei Jahrzehnten Schweigen und einem heftigen Alkohol- und Drogenabsturz spricht Jan Ullrich erstmals über jahrelanges Doping in seinem Team Telekom.

«Ich weiß nicht, ob man das aus heutiger Sicht verstehen kann. Aber damals fühlte sich das alles völlig normal an», sagte der Ex-Radsportler dem «Stern». Doping zur Wahrung der Chancengleichheit – so wurden die verbotenen Substanzen gerechtfertigt. «Ohne nachzuhelfen, so war damals die weitverbreitete Wahrnehmung, wäre das so, als würdest du nur mit einem Messer bewaffnet zu einer Schießerei gehen», ergänzte der 49-Jährige.

Ullrich gewann als erster und bislang einziger Deutscher im Jahr 1997 die Tour der France. Die ganze Republik feierte ihn wie einen Popstar. Zwei Jahre zuvor war er zum Top-Rennstall Telekom gewechselt und habe dort «ziemlich schnell gelernt, dass Doping weitverbreitet war», wie er sagte.

Schon lange vor Ullrich hatten viele der ehemaligen Teamkollegen Dopinggeständnisse abgelegt – er weigerte sich. «Weil ich nicht die Kraft dazu hatte. Meine Vergangenheit hat mir so sehr auf der Seele gesessen. Die war so groß und so belastend. Auch deshalb bin ich viele Jahre ein Meister im Verdrängen gewesen», bemerkte er.

Früher sagte er stets, er habe niemanden betrogen. Eine klare Formulierung wie «Ich habe gedopt» verkniff sich der gebürtige Rostocker auch in diesem Interview. Möglicherweise folgt dieser finale Schritt in der Dokumention «Jan Ullrich – Der Gejagte», die ab 28. November bei Amazon-Prime zu sehen ist.

Anwälte rieten zum Schweigen

Ullrich hatte 2006 unfreiwillig seine Karriere beendet und war schnell zur unerwünschten Person im Radsport geworden. Auslöser waren seine Verbindungen zum spanischen Dopingarzt Eufemiano Fuentes, sein Team suspendierte ihn unmittelbar vor dem Tour-Start. Damals und noch viele Jahre danach stritt der Sportler alles ab.

«Ich wollte kein Verräter sein. Ich wollte auch nicht mit Halbwahrheiten raus und schon gar nicht mit der ganzen Wahrheit», erzählte Ullrich jetzt und begründete es mit juristischen Zwängen. «Da hingen Existenzen dran, Familien, Freunde. Die Anwälte haben mir gesagt: Entweder du gehst raus und reißt alles ein, oder du sagst gar nichts.» Gegen ihn sei damals ein Strafverfahren gelaufen. «Meine Anwälte haben mir empfohlen zu schweigen. Ein Rat, den ich befolgt habe, an dessen Folgen ich aber lange gelitten habe.»

Doping-Hemmschwelle damals niedrig

2012 wurde Ullrich vom Internationalen Sportgerichtshof Cas für zwei Jahre gesperrt, diverse Erfolge zwischen 2005 und 2006 wurden ihm aberkannt. Ob die neuen Aussagen Folgen haben für Ullrichs frühere Siege – allen voran bei der Tour 1997 – war zunächst unklar. Sein Olympia-Gold 2000 dürfte wegen der zehnjährigen IOC-Verjährungsfrist für Doping-Vergehen nicht in Gefahr sein.

Doping war im Radsport Normalität, die Hemmschwelle entsprechend niedrig. «Allgemein überwog die Einstellung: Wenn man das nicht macht – wie will man in einem Rennen bestehen? Dann fährst du im Peloton und weißt, du bist wahrscheinlich einer derjenigen, die nichts drin haben, und deswegen hast du auch null Chancen», sagte Ullrich.

Mittlerweile bereut Ullrich, sich nicht früher ausführlich über Doping geäußert zu haben. «Aus heutiger Sicht hätte ich reden sollen. Es wäre für einen kurzen Moment sehr hart geworden, aber danach wäre das Leben leichter gewesen.»

Whiskey, Kokain, 800 Zigaretten täglich

So kam es anders – und Ullrich schlitterte privat immer tiefer Richtung Abgrund. 2015 zog er mit der Familie nach Mallorca, um ein neues Leben zu beginnen. «Aber es hat nicht funktioniert für mich. Im Gegenteil. Am Ende folgte der Absturz – so tief, tiefer ging es nicht», sagte Ullrich. Aufgrund seiner Alkohol-Eskapaden ging seine damalige Frau Sara mit den drei Kindern zurück nach Deutschland. Dann habe der «Totalabsturz» begonnen.

Ullrich trank «Whiskey wie Wasser» und kokste, erzählt er in der Amazon-Doku, wie im Trailer zu sehen ist. Falsche Freunde kamen dazu. «Zu dieser Zeit habe ich mir einige Challenges einfallen lassen. Eine war, dass ich einen Weltrekord im Rauchen aufstellen wollte. Einmal habe ich 700 bis 800 Zigaretten am Tag durchgezogen. Die Typen um mich herum, diese Hyänen, haben applaudiert», erinnerte sich der Ex-Sportler.

Irgendwann landete Ullrich in einer Gefängniszelle. Dieser Absturz, «der mir fast mein Leben gekostet hat», sei der Anlass gewesen, sein Leben umzukrempeln und nun auch an die Öffentlichkeit zu gehen.

Ex-Rivale Armstrong als großer Helfer

Eine große Hilfe war sein einst größten Rivale Lance Armstrong, dem wegen Dopings sieben Tour-Erfolge aberkannt worden waren. «Ich hatte mich vollkommen verloren. Freunde haben damals alles versucht, sie haben meine ehemaligen Teamkollegen angerufen, meine ehemaligen Trainer – keine Chance», erzählte Ullrich dem «Zeit Magazin» in einem gemeinsamen Interview mit Armstrong. «Der Einzige, der mich erreichen könnte, glaubten sie schließlich, sei Lance. Wir hatten damals keinen engen Kontakt, ich wusste vorher nicht, dass er zu mir kommt. Dass er sich dann gleich in den Flieger gesetzt hat, werde ich ihm nie vergessen.»

Der Amerikaner überredete Ullrich, einen Entzug zu machen, damit es ihm nicht ergehe wie dem 2004 an einer Überdosis gestorbenen Italiener Marco Pantani. «Ich hätte es nicht ertragen können, noch einen von uns zu verlieren», sagte Armstrong. «Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Aber ich liebe diesen Mann. Dass es ihm so schlecht ging, brach mir das Herz.»

Nach all den Abstürzen ist Ullrich optimistisch. «Gott sei Dank bin ich gesund aus der ganzen Geschichte rausgekommen, habe wieder Lust zum Radfahren, Lust, meine Kinder aufwachsen zu sehen. Ich bin wieder lebenshungrig.»

Von Tom Bachmann und Manuel Schwarz, dpa