Nagelsmanns Plan für «viele emotionale Momente»

Als Toni Kroos im lässigen Kapuzenpulli Autogramm um Autogramm schrieb, drückte Julian Nagelsmann noch die Schulbank. Der Bundestrainer war mit Rudi Völler zu Besuch in einer Grundschule bei Mainz.

Mit den Kindern kickte er auch noch auf Mini-Feldtore in einer Turnhalle, bevor der nach der personellen Radikalkur gewagte EM-Countdown für ihn mit Werbeaufnahmen und den angekündigten Rollengesprächen für die Fußball-Nationalspieler im Teamhotel vor den Toren Frankfurts so richtig begann.

Die Kernbotschaft, die Nagelsmann den Nationalspielern bei der ersten Teambesprechung eintrichtern wollte, verriet er schon vorab auf die Frage eines Mädchens nach seinen ganz persönlichen EM-Erwartungen. Diese gehen weit über das sportliche Ergebnis hinaus. «Es geht darum, viele emotionale Momente zu kreieren für dieses Land, für die Fans, für die Kids, für die Leute, die im Stadion sind, die vor den Fernsehgeräten sind, die in den Straßen unterwegs sind.» Kurzum: Schöner Fußball mit Einsatz und Herz soll «die Menschen im Land begeistern», verkündete Nagelsmann: «Das ist das alles Entscheidende für mich.»

Eine Szene vor dem DFB-Quartier muss dem Bundestrainer dabei gefallen haben. Kein Spieler war bei den Autogramm- und Selfie-Jägern so gefragt wie der von ihm reaktivierte Kroos nach fast drei Jahren DFB-Ruhestand. «Ich bin ja noch ein paar Tage hier», rief der Star von Real Madrid den Fans zu, als noch nicht alle Wünsche von ihm erfüllt waren.

Während die weiteren Spanien-Legionäre wie Kapitän Ilkay Gündogan oder Antonio Rüdiger direkt im Hotel verschwanden, wo auch Torwart Manuel Neuer als zweiter Comeback-Star nach mehr als einem Jahr ohne Länderspiel zuvor eingecheckt hatte, gehörte Kroos die Hauptrolle zum Start einer der spannendsten Länderspiel-Wochen in der DFB-Historie. Den Plot – sprich, wer welche Aufgabe für die Rettung der fragilen EM-Träume übernehmen muss – will Nagelsmann in der Luxus-Herberge seinen Spielern persönlich erläutern.

Frankreich und Niederlande als Prüfsteine

Wer soll vorangehen? Wer ist eher Statist? All diese Aufgaben hat Nagelsmann mit seiner ungewöhnlichen Kaderauswahl schon skizziert. Jetzt kommt binnen weniger Tage mit den Test-Krachern am Samstag (21.00 Uhr/ZDF) in Lyon gegen Frankreich und drei Tage später gegen die Niederlande in Frankfurt alles auf den Prüfstand. Weitere sportliche Rückschläge würden die Stimmung bis zum EM-Anpfiff am 14. Juni gegen Schottland weiter drücken.

Nichts ist für Nagelsmann schlimmer als Tatenlosigkeit. Wer keine Entscheidungen fälle, sei schon gescheitert, beschrieb der DFB-Chefcoach eine für ihn zentrale Lebenseinstellung. Dieser ist er mit der Nominierung seines Premieren-Kaders im EM-Jahr konsequent gefolgt. Sechs Neulinge rein, Alpha-Tiere wie Mats Hummels und Leon Goretzka raus – das sorgt für Aufsehen, bietet aber viel Angriffsfläche.

Nagelsmann setzt sich durch seinen gelebten Aktionismus der Gefahr des Zick-Zack-Vorwurfs aus. Kontinuität und Stringenz hat er mit seinen taktischen und personellen Entscheidungen seit September nicht demonstriert. Mit dem Motto-Move «alles auf Null» ist er selbst ins Risiko gegangen. Mit nur einem Sieg aus den ersten vier Länderspielen hat er die Negativmarke von Glücklos-Bundestrainer Erich Ribbeck ohnehin schon eingestellt.

Bierhoff kennt die Problematik

«Am Ende hängt es von den Ergebnissen ab. Wenn es in die Hose geht, ist es ein Griff in die Tonne gewesen», beschrieb Oliver Bierhoff bei Welt TV die aktuelle Situation. Der ehemalige Langzeit-Manager der Nationalmannschaft weiß aus den späten Jahren seiner DFB-Ära mit drei massiven Turnier-Enttäuschungen, wie Pläne gründlich schiefgehen können.

Nagelsmann erweckt den Eindruck, dass ihn negative Gedanken nicht tangieren. Wenig emotional präsentierte er seine Pläne für einen Last-Minute-Umschwung Richtung Heim-Turnier. «Mir geht es um das Wie, dass wir das mit Leben füllen, was Lust, was Gier ans Maximale kommen und dadurch den Mangel an Zeit für taktische Einheiten wettmachen. Wenn wir das hinkriegen, werden wir gute Spiele machen», versprach er.

Die Code-Wörter lauten «Momentum» und «Rolle». Ersteres müssen Nationalspieler bis zum Sommer auf ihrer Seite haben. Letzteres wird jedem Einzelnen von Nagelsmann zugewiesen. Marc-André ter Stegen wird ziemlich sicher erfahren, dass er hinter Neuer wieder nur die Nummer zwei im DFB-Tor ist, womöglich noch vor dem ersten Training am Dienstag.

Egoisten sind nicht erwünscht

Nagelsmanns Ultima Ratio ist klar: «Am Ende gibt es vorgefertigte Rollen. Alle Spieler, die damit klarkommen, haben die Chance, beim Turnier dabei zu sein. Spieler, die damit nicht klarkommen, das müssen wir ehrlich kommunizieren, haben dadurch keine Chance, beim Turnier dabei zu sein. Vielleicht ersparen sie sich selbst Ärger», sagte er. Spätestens damit war klar, was der Bundestrainer bei bis kürzlich noch als sicher geltenden EM-Kandidaten wie Hummels, Goretzka oder auch Niklas Süle vermisst. Die Bereitschaft, sich hinten anzustellen, eine (Ersatz-)Rolle klaglos zu akzeptieren.

Das können die sechs Neulinge Aleksandar Pavlovic vom FC Bayern München, der wegen eines Infekts noch fehlte, Jan-Niklas Beste vom 1. FC Heidenheim, Maximilian Beier von der TSG 1899 Hoffenheim sowie die drei Stuttgarter Waldemar Anton, Maximilian Mittelstädt und Deniz Undav vermutlich besser. Geburtstagskind Mittelstädt (27) war bei der Ankunft in Frankfurt aber nicht kleinlaut. Startelf? Ja, die traue er sich zu, sagte er kess.

Nagelsmann auf Jobsuche

Aber welche Rolle spielt eigentlich Nagelsmann selbst? In jedem Falle keine klassische Bundestrainer-Rolle. Ein halbes Jahr im Amt hat nicht gereicht, um das Fremdeln zu beseitigen. Ständiges Lamentieren über fehlende Trainingsmöglichkeiten. Und ein offensichtliches Kokettieren mit dem Abschied nach dem Vertragsende nach der EM, sind ungewöhnlich. «Wenn ich vor der EM ein Vertragsangebot vorliegen habe, mit dem ich zufrieden bin, wo ich sage, da fühle ich mich wohl und da sehe ich mich, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich es vor der EM unterschreibe», sagte der 36-Jährige und meinte damit offensichtlich nicht seinen momentanen Arbeitgeber.

Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa