Nagelsmanns Signal zum EM-Start: «Vollgas» in der Idylle

Direkt hinter dem großen rostbraunen Eisentor wird sich Golf-Fan Thomas Müller wie zu Hause fühlen. Eingebettet in eine kleine Waldschneise schmiegt sich ein gut gepflegtes Grün. Der feine Elektrodraht knapp unter Kniehöhe am Wegesrand deutet darauf hin, dass hier höchstens Wildschweine als unliebsame Besucher abgehalten werden müssen.

Einige hundert Meter weiter erwartet Bayern-Urgestein Müller vor seinem vierten EM-Turnier und dessen Nationalmannschaftskollegen eine idyllische Luxus-Herberge im Fachwerk-Stil als erste Station auf dem Weg zum großen Finale am 14. Juli in Berlin.

Wie oft Müller auf der Anlage im Golfhotel Weimarer Land in Thüringen in den kommenden Tagen den Schläger wird schwingen können, liegt in den Händen von Julian Nagelsmann. Der Bundestrainer zieht natürlich gleich zum Auftakt des Trainingslagers die Zügel an. Nach sieben Wochen Fußball-Sommer soll als Krönung im ganzen Land der EM-Titel gefeiert werden. «Es wird von jedem immer Vollgas verlangt, egal ob Spieler 14, 2 oder 18. Das sorgt für den nötigen Konkurrenzkampf, für die Spannung», sagte der Bundestrainer.

Gut gelaunt hatte Nagelsmann mit seinem Co-Trainer Sandro Wagner am Samstagabend noch auf der Tribüne im Berliner Olympiastadion den DFB-Pokalsieg seiner drei Leverkusener EM-Fahrer Florian Wirtz, Robert Andrich und Jonathan Tah gegen den 1. FC Kaiserslautern verfolgt. Gemeinsam mit Sportdirektor Rudi Völler ging es am Sonntag aus der Hauptstadt nach Thüringen. Erstmals bereitet sich die Nationalmannschaft im Osten des Landes auf ein großes Turnier vor. Völler war das als EM-Signal wichtig. Auch wenn es nur fünf Tage sind.

Trainingslager als Signal an den Osten

«Wir wollten zeigen, dass wir alle zusammengehören», sagte Völler bei einem Ortstermin in Blankenhain. Dort fühlt man sich oft zu kurz gekommen, was den großen Fußball angeht. Leipzig ist wie bei der WM 2006 der einzige EM-Spielort in den neuen Bundesländern. Die drei EM-Gruppenspiele gegen Schottland (14. Juni/München), Ungarn (19. Juni/Stuttgart) und die Schweiz (23. Juni/Frankfurt) finden alle im Süd-West-Cluster statt.

Nagelsmann kann auf regionale Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen. Er muss die Bedingungen für eine sportlich perfekte Vorbereitung im Blick haben. Und die sind in der Thüringer Abgeschiedenheit mit kurzen Wegen zwischen Hotel und einem frisch errichteten Trainingsplatz mit Wembley-Rasen-Qualität bestens. Das Land Thüringen hat in die Infrastruktur investiert. Laut Wirtschaftsministerium fließen rund 1,5 Millionen Euro unter anderem in die Sanierung des städtischen Sportplatzes, die Umgestaltung des Schlossvorplatzes und das Medienzentrum.

Real- und BVB-Stars noch mit Königsklassen-Date

Nach der DFB-Elf kommen die Engländer mit Harry Kane. Der Bayern-Stürmerstar soll nur nach Ansicht der Bilder aus Blankenhain und der dortigen Golfbahnen sofort den Daumen für das EM-Quartier der «Three Lions» gehoben haben. Hausherr Matthias Grafe, ein positiver Machertyp, der 1990 nach Thüringen kam und später dann den alten Gutshof sanierte, pocht spaßeshalber darauf, den künftigen Europameister bei sich beherbergen zu wollen. Deutschland gegen England im Finale, das fände sicher auch Nagelsmann schick.

Zum Auftakt muss der Bundestrainer gleich eine gute Mischung finden. Von seinen 27 vorläufig nominierten Spielern sind zum Auftakt nur zwei Drittel dabei. Das Bayer-Trio Tah, Andrich, Wrtz kommt wie Kapitän Ilkay Gündogan und Torwart Marc-André ter Stegen wegen deren letztem Ligaspiel für den FC Barcelona mit Verspätung. Die vier Champions-League-Finalisten von Real Madrid (Toni Kroos, Antonio Rüdiger) und Borussia Dortmund (Niclas Füllkrug, Nico Schlotterbeck) stoßen wegen ihres London-Dates am 1. Juni sogar erst nach dem ersten Testspiel gegen die Ukraine (3. Juni/Nürnberg) zur DFB-Auswahl.

Magen-Darm-Infekt verhindert Neuers Anreise

Da soll Manuel Neuer nach anderthalb Jahren sein Comeback im DFB-Tor feiern. Der 38 Jahre alte Bayern-Profi, von Nagelsmann bereits zum Turniertorwart ernannt, konnte aber am Sonntag vorerst nicht nach Blankenhain anreisen. Grund: Ein Magen-Darm-Infekt.

Bei zuletzt angeschlagenen Spielern wie dem Bayern-Duo Jamal Musiala und Leroy Sané wird Nagelsmann die Belastung dosieren müssen. Um ordentlich üben zu können, hat er die U21-Nationalspieler Brajan Gruda (Mainz 05) und Rocco Reitz (Gladbach) als Trainingsgäste eingeladen. Die beiden Nachwuchsspieler werden sich einordnen in das von Nagelsmann entworfene, penible Personalkonzept mit klaren Rollenverteilungen.

«Wir haben einen guten Mix gefunden, zwischen sehr starken Persönlichkeiten, zwischen Persönlichkeiten, die sich unterordnen können und die anderen pushen», sagte der 36-Jährige. «Es sind schon zwei Busse voll mit Menschen, und das muss zusammenpassen.»

Viel Zeit bleibt in Blankenhain nicht, bevor am Freitag der Umzug ins EM-Quartier in Herzogenaurach folgt. Und dem Wunsch der Fans nach Nähe zu ihren Helden soll vor dem Heimturnier auch Rechnung getragen werden. Los geht es am Montagnachmittag mit einem öffentlichen Training vor 15.000 Fans im Stadion des Regionalligisten Carl Zeiss Jena.

Jede Schraube muss sitzen

Danach bittet Nagelsmann in seiner typisch lockeren Art um Verständnis, dass es EM-Stars zum Anfassen nicht mehr geben wird. «Wir wollen uns nicht verstecken oder einsperren. Am Ende ist es aber normal, wenn man an etwas konzentriert arbeiten möchte. Wenn 6000 Leute am Fließband stehen, dann weiß ich nicht, wie der Tuareg über die Straße fährt, ob die Schraube so hält wie vorher», zog er einen Vergleich zur Fabrikarbeit beim DFB-Generalsponsor.

Nagelsmann weiß, dass der März-Aufschwung mit dem Testrausch gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1) schnell verflogen ist, wenn es in der Vorbereitung oder dann gegen Schottland im EM-Eröffnungsspiel am 14. Juni in München nicht läuft. «Ich glaube, dass Stabilität gewachsen ist, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass es wieder bröckelt. Jetzt geht es darum, das über sechs Wochen stabil auf den Platz zu bringen», sagte er. Und am besten gleich in Blankenhain.

Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa