Die Furcht vor dem nächsten italienischen Debakel wollte Gianluigi Buffon am liebsten komplett ausblenden. «Wir dürfen nicht mit Angst ins Spiel gehen», sagte der Teammanager der italienischen Fußball-Nationalmannschaft, der nach den verpassten Weltmeisterschaften 2018 und 2022 der nächste Tiefpunkt droht.
Im EM-Gruppenfinale gegen Kroatien am Montag (21.00 Uhr/ZDF/Magenta TV) kämpfen sowohl der Titelverteidiger als auch der WM-Dritte gegen einen vorzeitigen K.o. in der Vorrunde. «Wir müssen die Sicherheit und das Vertrauen in uns wiederfinden», forderte Ex-Weltmeister Buffon.
Nach dem absolut chancenlosen Auftritt beim 0:1 gegen Spanien geht Italien zwar mental angeschlagen in die Partie, aber doch mit der deutlich besseren Ausgangslage. Dem Team von Nationalcoach Luciano Spalletti genügt bereits ein Punkt, um den Einzug in die K.o.-Runde als Gruppenzweiter perfekt zu machen. «Es gibt Spiele, die darüber entscheiden, ob man eine großartige oder eine kleine Geschichte schreiben kann», sagte der 65-Jährige am Sonntag im Leipziger EM-Stadion und machte deutlich: «Man braucht keine großen Erklärungen: Wenn wir kein positives Ergebnis erzielen, fahren wir zurück nach Italien.»
Kroatiens Problem mit Modric
Die Kroaten stehen noch deutlich mehr unter Druck. Sie brauchen nach nur einem Punkt aus zwei Spielen und einer bislang komplett enttäuschenden EM einen Sieg. Mit Platz drei bei der WM und dem Finaleinzug in der Nations League hatte sich das Team von der Adria den Status des Geheimfavoriten erkämpft. Doch die goldene Generation der Kroaten scheint in die Jahre gekommen. Beim 2:2 gegen Albanien lief die älteste kroatische Mannschaft auf, die es jemals bei einer EM gab. Die fehlende Spritzigkeit ist den Routiniers um Luka Modric (38) und Ivan Perisic (35) anzumerken. «Es fehlt uns an Aggressivität. Wir sind oft zu weit weg vom Ball und dem Gegner», bemängelte Nationalcoach Zlatko Dalic.
Die bislang schwachen Auftritte der Vatreni verbinden viele Experten vor allem mit Kroatiens Fußball-Legende Modric. Der alternde Superstar hat bei dieser EM seine Klasse verloren, spielt quasi überhaupt keine Rolle bislang. «Unsere Spieler werden älter und der Ausgang des Turniers ist total offen», musste sich auch Dalic eingestehen. Der 57-Jährige kündigte dennoch trotzig an: «Für uns beginnt jetzt die K.o.-Phase, also lasst es uns angehen.»
«Haben unser Schicksal in der Hand»
Doch gerade die Erfahrung von Modric und Co. ist es, die den Italienern Sorgen bereitet. «Kroatien ist stark, sie haben Erfahrung und viele Spieler mit Qualität, da müssen wir aufpassen», warnte Abwehrspieler Matteo Darmian. Das sonst so große Selbstvertrauen der stolzen Fußball-Nation ist nach dem schwachen Auftritt gegen Spanien massiv angeknackst.
«Das war ein Rückschlag, den wir nicht erwartet hätten», gab Buffon zu. Vor allem Torhüter Gianluigi Donnarumma, der eine deutlich höhere Niederlage mit zahlreichen starken Paraden verhinderte, war frustriert: «Wir sind wütend, aber das sollten wir für die letzte Partie nutzen, wir haben unser Schicksal noch in der eigenen Hand», forderte der Kapitän.
Zwar könnte Italien auch bei einer knappen Niederlage als einer der vier besten Gruppendritten noch weiterkommen, darauf will sich im Land des viermaligen Weltmeisters aber niemand verlassen. Dem Dritten droht ohnehin ein deutlich schwerer Weg durchs Turnier mit dem bislang überzeugenden Portugal als Achtelfinal-Gegner.
Spallettis mutige Entscheidungen
Trotz der Ernüchterung nach dem Spanien-Spiel und dem drohenden nächsten Tiefpunkt will Italien an seinem Weg festhalten. Spalletti soll nach nur zehn Monaten im Amt weitere Zeit bekommen, Spieler zu entwickeln und dem Team seine offensive Spielidee zu vermitteln. «Wir brauchen Geduld und viel harte Arbeit», mahnte Verbandspräsident Gabriele Gravina. Spalletti sei der bestmögliche Coach für die Squadra Azzurra, betonte der 70-Jährige. «Er hat eine Philosophie, die wir teilen und der wir folgen wollen.»
Den ersten mutigen Schritt in die Zukunft könnte Spalletti schon gegen Kroatien machen: Der gegen Spanien schwache 2021er-Europameister Jorginho (32) ist ein Kandidat für einen Platz auf der Ersatzbank. Für ihn könnte Spalletti Nicolò Fagioli bringen, 23 Jahre alt und eines der größten italienischen Talente. Es wäre der erste EM-Einsatz für den Mittelfeldspieler – kurz nach dem Ablauf seiner siebenmonatigen Sperre im Wettskandal. Wechsel werde er auf jeden Fall vornehmen, kündigte Spalletti an, welche verriert er freilich nicht. Dafür prophezeite er schon mal «vielleicht einen etwas weniger attraktiven Fußball». Nur das Weiterkommen zählt.