Leidenschaft reicht nicht: Fehlstart nach Hummels-Eigentor

Joachim Löw gratulierte kurz seinem französischen Kollegen Didier Deschamps und verschwand enttäuscht in die Katakomben. Die Spieler standen indes konsterniert auf dem Rasen, ehe sie traurig einen Dank an die Fans für die lange nicht mehr erhaltene Unterstützung richteten.

Mit Herz, Einsatz und Leidenschaft hatte sich die deutsche Mannschaft gegen einen Fehlstart gestemmt, doch der Weltmeister Frankreich war eine Nummer zu groß. Auch die lautstarken Fans konnten die deutsche Mannschaft nicht zu einem ermutigenden Start in die Fußball-EM antreiben. In ihrem 50. EM-Spiel war die DFB-Auswahl trotz leidenschaftlicher Hingabe am Dienstagabend vor 14.500 Zuschauern in der Münchner Arena nicht in der Lage, den eingespielten Champion Frankreich beim 0:1 (0:1) in Gefahr zu bringen.

«Es war ein brutal intensives Spiel. Wir haben alles in die Waagschale geworfen, haben gefightet bis zum Schluss. Ein Eigentor hat das Spiel entschieden. Kämpferisch kann ich der Mannschaft nichts vorwerfen, wir haben alles reingehauen. Was uns gefehlt hat, war die Durchschlagskraft im letzten Drittel», sagte Bundestrainer Löw, der aber auch Zuversicht ausstrahlte: «Es ist ja nichts passiert. Wir haben noch zwei Spiele und in diesen Spielen können wir noch alles geradebiegen.»

Bitteres Eigentor durch Hummels

Besonders bitter war der stimmungsvolle Abend für Rückkehrer Hummels, der in der 20. Minute ins eigene Tor traf. Der am Spielfeldrand sehr engagierte Joachim Löw steht damit bei seinem Abschiedsturnier als Bundestrainer schon vor dem zweiten Gruppenspiel am Samstag (18.00 Uhr) gegen Portugal mächtig unter Druck. Der Titelverteidiger um Weltstar Cristiano Ronaldo startete mit einem 3:0 gegen Außenseiter Ungarn ins Turnier.

«Wir haben viel von dem umgesetzt, was wir wollten. Wir haben ein gutes Spiel gemacht und hatten Chancen. Ein unglückliches Tor hat das Spiel entschieden. Wir haben vieles sehr gut kontrolliert. Ich habe wenige Konter von Frankreich gesehen», sagte Toni Kroos und Joshua Kimmich meinte: «Ich denke, wir waren nicht die schlechtere Mannschaft. Ein Punkt wäre verdient gewesen. Wir haben das Niveau, um mit den Topteams mitzuhalten.» Frankreichs Coach Didier Deschamps sprach von einem «großen Spiel» und betonte: «Das hätte auch ein Halbfinale oder Finale sein können.»

Gegen das perfekt aufeinander abgestimmte Weltmeister-Ensemble der Franzosen stieß die unzureichend eingespielte DFB-Elf klar an ihre Grenzen. Der Angriff um Thomas Müller kam selten in die gefährliche Zone, prallte meist am Defensiv-Bollwerk der Équipe Tricolore mit den Bayern-Verteidigern Benjamin Pavard und Lucas Hernández ab. Die Franzosen hatten bei einem Pfostenschuss von Adrien Rabiot (52.) und zwei Abseitstoren von Kylian Mbappé (66.) und Karim Benzema (85.) noch Pech.

Zuschauer sahen ein intensives Spiel

Die Bühne war bereitet. Ein herrlicher Sommertag in München, perfekte Bedingungen und erstmals seit dem Corona-Ausbruch wieder eine größere Kulisse bei einem deutschen Heimspiel. «Das bringt Emotionen rein. 15.000, das bringt schon viel», sagte Löw. Emotionen waren tatsächlich da. DFB-Direktor Oliver Bierhoff hatte eine «leidenschaftliche Mannschaft» versprochen und wurde nicht enttäuscht.

Die Weltmeister von 2014 und 2018 lieferten sich von Beginn an ein hochintensives Spiel. Das deutsche Team ging gegen die Hochbegabten um Superstar Mbappé aggressiv zu Werke, manchmal auch etwas übermotiviert. So war die frühe Gelbe Karte gegen Joshua Kimmich genauso unnötig (7.) wie der nicht geahndete leichte Biss von Antonio Rüdiger gegen Paul Pogba.

Kämpferische Vorstellung

Löw hatte Alleskönner Kimmich erwartungsgemäß auf die rechte Seite gezogen. Glücklich agierte Kimmich dort nicht, der Bayern-Star fand sich in seiner Rolle nicht gut zurecht und wandelte zwischenzeitlich am Rande eines Platzverweises. Die Zentrale bildeten stattdessen Toni Kroos und Ilkay Gündogan. Vor allem Kroos präsentierte sich als Leader und lieferte eine kämpferische Vorstellung ab wie selten zuvor, konnte dafür aber weniger Offensivimpulse setzen.

Die Franzosen überließen dem DFB-Team erst einmal die Kontrolle, ehe das Starensemble nach einer Viertelstunde die Schlagzahl erhöhte. Und wie! Erst setzte Pogba einen Kopfball knapp über das Tor (16.), dann zwang Mbappé den Welttorhüter Manuel Neuer zu einer Parade (17.).

Und kurz darauf war es auch schon passiert. Nach einer scharfen Hereingabe von Hernandez – Matthias Ginter und Kimmich hatten die rechte Seite komplett offen gelassen – missglückte Hummels der Klärungsversuch. Was für ein bitteres Pflichtspiel-Comeback für den Dortmunder, der vor der EM zusammen mit Thomas Müller nach über zweijähriger Verbannung ins deutsche Team zurückgekehrt war.

Und Müller? Der Münchner, der schon zehn WM-Tore, aber noch keines bei einer EM erzielt hatte, besaß einen schweren Stand. Ein Kopfball in der 23. Minute, mehr war im ersten Durchgang gegen die herausragenden Franzosen nicht drin. Kompromisslos in der Defensive, ein bärenstarkes Mittelfeld um den allseits präsenten Pogba und dazu der Supersturm – das perfekt aufeinander abgestimmte französische Weltmeisterteam lief bereits zum EM-Auftakt auf Hochtouren.

Keine echten Torchancen

Echte Torchancen besaß das DFB-Team im ersten Durchgang trotz großem Aufwand nicht. Zwei Freistöße von Kroos landeten in der Mauer (25.) und über dem Tor (27.), dazu ein verunglückter Schuss von Gündogan (38.). Frankreichs Keeper Hugo Lloris kam in Halbzeit eins nicht wirklich ins Schwitzen.

Joachim Löw versuchte in seinem 195. Länderspiel als Bundestrainer an der Seitenlinie immer wieder korrigierend einzuwirken. Wenige Reihen hinter ihm verfolgte Nachfolger Hansi Flick das Geschehen und schaute nicht weniger sorgenvoll drein. Denn bei den blitzschnellen Angriffen der Equipe Tricolore wurde es stets brenzlig. Dabei setzte Rabiot frei vor Neuer den Ball an den Außenpfosten (52.).

Und doch stemmten sich Müller und Co. gegen einen Fehlstart und erarbeiteten sich Chancen. Gnabry setzte einen Schuss knapp drüber (54.), Müllers Versuch wurde abgeblockt (56.), ehe wieder der starke Gnabry für Gefahr sorgte (57.). Als dann aber Mbappé traf, schien alles vorbei, doch der PSG-Star stand im Abseits (66.). Mbappé war auch im Pech, dass der Schiedsrichter nach einer Hochrisikogrätsche von Hummels nicht auf Elfmeter entschied (78.). Danach war es Benzema, dessen Tor nach Abseitsstellung aberkannt wurde.

Von Klaus Bergmann, Jens Mende und Stefan Tabeling, dpa