Löw: Werden uns aufrichten – Ohne Tore droht frühes Aus

Ausschlafen, ausruhen, aufrichten: In der Wohlfühloase des fränkischen EM-Quartiers ist der Bundestrainer nach dem Fehlstart ins Turnier gegen Frankreich voll gefordert.

Die ausgepumpten und frustrierten Spieler erholten sich, Joachim Löw musste mit seinem Stab in die Aufarbeitung. Das leidenschaftliche 0:1 gegen das Weltmeister-Bollwerk in München war im fußballerischen Vortrag zwar nicht vergleichbar mit dem desaströsen 0:1-Anfang gegen Mexiko beim WM-Untergang vor drei Jahren in Russland.

Doch die Drucksituation ist ähnlich, auch wenn sie vor der nächsten großen Prüfung gegen Titelverteidiger Portugal ein wenig dadurch entschärft wird, dass Deutschland sich bei einem EM-Turnier womöglich auch als Gruppendritter ins Achtelfinale retten könnte.

Kämpferische Botschaft an Ronaldo & Co.

Den Rechenschieber mochte Löw aber eh noch nicht auspacken. Vielmehr richtete er eine kämpferische Botschaft an die gegen Ungarn mit 3:0 siegreichen Portugiesen um Tor-Schreckgespenst Cristiano Ronaldo. «Wir werden uns wieder aufrichten. Wir werden das nächste Spiel dann angehen – und gewinnen», sagte der Bundestrainer.

Löw sieht sich nicht mal in Zeitnot, obwohl er ganz flott wichtige und richtige Lösungen finden muss. «Es ist gut, dass das nächste Spiel relativ schnell stattfindet», sagte der 61-Jährige mit Blick auf die Rückkehr in die Münchner Arena am Samstag (18.00 Uhr).

«Wir haben null Punkte. Trotzdem müssen wir den Kopf oben behalten. Es gibt noch sechs Punkte, die wir holen können. Darauf müssen wir uns fokussieren», sagte Toni Kroos. In seinem 103. Länderspiel sah man den Mittelfeldstar von Real Madrid so vehement fürs Team arbeiten wie nie zuvor. «Wir können uns nichts vorwerfen, wir haben alles reingehauen», resümierte der 31-Jährige total erschöpft.

Offensivideen fehlen

Alles reingehauen? Ja! Nichts vorwerfen? Nein! Es fehlten bei aller Hingabe die Offensivideen, die Durchschlagskraft und die Überzeugung, um den Franzosen ein Unentschieden abzutrotzen. Standards wurden ganz viel trainiert, alle verpufften. Die Équipe Tricolore ist allerdings auch eine über Jahre automatisierte Maschine. Löw dagegen hat versucht, in nur zweieinhalb Wochen Vorbereitung ein Kollektiv um die Rückkehrer Mats Hummels und Thomas Müller zusammenzuzimmern und im System mit der Dreierkette voll funktionsfähig zu machen.

Das sah auf Anhieb ordentlich aus, reichte aber für die aktuell Besten auf dem Fußball-Globus nicht. «Leider konnten wir aus unserer Dominanz nicht Torchancen herausarbeiten», sprach Joshua Kimmich den Knackpunkt der 90 temporeichen, intensiven, packenden Minuten an. «Frankreich ist auch Weltmeister im Verteidigen», warf Löw ein. Er weiß aber: «Wir brauchen gegen Portugal das eine oder andere Tor.»

Auf «Augenhöhe» mit dem Weltmeister

Auf «Augenhöhe» wähnten sich die Verlierer mit den Gewinnern. Die meisten deutschen Akteure wählten diese (Fehl-)Einschätzung der Kräfteverhältnisse. War es allein Pech, dass ein Eigentor von Mats Hummels entschied? Der 32 Jahre alte Abwehrchef verließ die Arena tief betrübt und zunächst wortlos. Erst tief in der Nacht, nachdem das DFB-Team in zwei Bussen – eskortiert von zwei Polizeiwagen – wieder auf dem Adidas-Campus angekommen war und die 26 EM-Spieler in ihren Holzhäusern zu Bett gingen, meldete sich Hummels. «Die Niederlage schmerzt uns sehr und mich besonders, weil mein Eigentor das Spiel am Ende entschieden hat», schrieb er bei Instagram.

Der Rückkehrer-Faktor Hummels/Müller wirkte zum Turnierbeginn noch nicht wie erhofft. Aber Löw wird an beiden erstmal nicht rütteln. Er muss andere Fragen beantworten. Hält er am System mit Dreierkette fest? Bleibt Joshua Kimmich rechts außen, obwohl er im zentralen Mittelfeld dominanter ist? Vor allem aber: Was macht er vorne? Wie impft er seiner Elf taktisch und personell mehr Torgefahr ein? Mit dem kreativen Leroy Sané? Mit dem schnellen Timo Werner?

Titelverteidiger Portugal hat, was Deutschland bräuchte: Cristiano Ronaldo ist inzwischen 36, legte aber gleich mit zwei Toren gegen Ungarn los. Er ist mit nun elf Treffern der EM-Rekordtorschütze.

«Druck auf dem Kessel»

Löw reagierte nicht panisch, sondern ruhig und mit festem Glauben an sich und sein Team. «Wenn wir nach vorne etwas durchschlagskräftiger werden, können wir Portugal schlagen», sagte er. Robin Gosens «kotzte» die Niederlage «total» an. «Dass jetzt Druck auf dem Kessel ist, ist klar», ergänzte der agile Flügelspieler, der trotzig eine Sechs-Punkte-Rechnung für das Weiterkommen aufmachte: «Wir werden regenerieren und mit Vollgas das nächste Spiel angehen.»

Löw erweckte in seiner Analyse nicht den Eindruck, dass er größere Umbauten für notwendig hält. Zum System mit Dreierkette sagte er: «Wir hatten genug Offensivkräfte auf dem Platz.» Aber vor allem Kai Havertz und auch Müller zündeten nicht. Der umtriebige Serge Gnabry erarbeitete sich immerhin die größte Chance zum 1:1-Ausgleich.

Deutschland rannte nach der Pause an. Aber es fehlte die Klasse, auch die erst spät eingewechselten Joker verpufften wirkungslos. «Wir waren nicht mutig genug, um noch ein Stück mehr Risiko zu gehen», meinte Kimmich, der auch nicht die entscheidenden Vorlagen gab.

Noch alles möglich

«Wir haben verloren, okay, wir sind sicher enttäuscht. Aber noch ist nichts passiert. In den zwei Spielen können wir alles geradebiegen», beruhigte Löw. Er durfte als Argumente für ein «Weiter so» auch die Aussagen der Sieger heranziehen. Frankreichs Weltmeister-Coach Didier Deschamps sprach von «einem Zweikampf der Titanen», einem großartigen Spiel: «Das hätte auch ein Halbfinale oder Finale sein können.»

Die Franzosen haben diese Fernziele klar im Blick. Die deutsche Mannschaft, die weiter in der Findungsphase steckt, muss erstmal sehen, wie sie die Vorrunde übersteht. Dabei soll auch der Fan-Faktor helfen. «Brutal» nannte Kimmich die Stimmung vor den 13 000 Zuschauern. «Wir brauchen die Fans im Rücken», sagte der Münchner. Er kündigte für das nächste gefühlte Finale gegen Ronaldo und Co. an: «Wir wollen Deutschland endlich wieder stolz machen.»

Von Klaus Bergmann, Jens Mende und Arne Richter, dpa