EM in Corona-Zeiten: Prestige, volle Ränge und Autokraten

Viktor Orban schaut zufrieden. Ungarns Ministerpräsident steht mit einem um seine Schultern gelegten Fanschal an einem warmen Juni-Abend auf der Tribüne der Puskas Arena in Budapest.

Mehr als 55.000 Zuschauer jubeln der ungarischen Fußball-Nationalmannschaft zu. Das, was Orban da auf dem fein gestutzten Rasen sieht, dürfte ihm gefallen. Auch wenn Ungarn EM-Titelverteidiger Portugal unterliegt.

55.000 Fans in Budapest – 33.000 in Baku

Etwa 2500 Kilometer Fluglinie entfernt stehen zwei ebenfalls machthungrige Herren auf der Tribüne eines Stadions in Baku. Ebenfalls an einem warmen Juni-Abend gucken sie vergnügt. Immerhin rund 30.000 Zuschauer begeistern sich. Und das, was der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan von ihren Sitzen aus im Stadion sehen, dürfte ihnen gefallen.

Wieder rund 2500 Kilometer Fluglinie entfernt befindet man sich in St. Petersburg. Auch hier lässt die Europäische Fußball-Union (UEFA) EM-Partien steigen. Russlands Staatschef Wladimir Putin steht an einem Juni-Abend aber nicht auf der Tribüne einer Arena. Er hält sich in Genf auf – ein wichtiges Treffen mit US-Präsident Joe Biden. Der Kreml lobt den Gipfel als gelungen, also kann man vielleicht auch hier sagen, dass Putin zumindest dieser Austausch gefallen hat.

Zu Gast bei Autokraten

Und die UEFA? Ihr gefällt diese Endrunde sicher auch, wenn man bedenkt, dass hinter ihrer Austragung lange Zeit Fragezeichen standen. Erstmals veranstaltet sie eine EM als paneuropäisches Turnier. Da ist man zu Gast bei Autokraten – nicht nur, aber eben auch. Und der UEFA-Chef Aleksander Ceferin schaut dann an der Seite von Aliyev und Erdogan die Partie Wales gegen die Türkei.

Der Fußball, so auch der feierliche Wunsch der UEFA, soll Menschen einander näher bringen. Ganz nah. Sogar ohne Abstand und ohne Maske, man schaue nur mal nach Budapest; selbst in Corona-Zeiten, wo die Sorgen vor einer Ausbreitung der Virus-Variante Delta wachsen.

Die Idee einer Mehr-Länder-EM hat ja durchaus ihren Charme. Wie es aber soweit kommen konnte, dass gleich elf Nationen dieses für die UEFA finanziell so überlebenswichtige Turnier ausrichten, dafür muss man zurückreisen ins Jahr 2012 nach Kiew. Da beantwortete der damalige UEFA-Boss Michel Platini zum Abschluss der EM in Polen und der Ukraine noch ein paar Fragen. Der Franzose hatte aber auch eine ziemlich abgefahren klingende Idee. «Ich könnte mir die EURO 2020 in ganz Europa vorstellen. Man könnte in 12 oder 13 Städten in ganz Europa spielen», warf Platini einfach mal so in den Raum.

Schnapsidee? Visionärer Plan? Hm. Die UEFA hatte damals ein Gastgeberproblem. Wunschkandidat Türkei hatte sich mit Istanbul auch für Olympia 2020 beworben – beide Großereignisse in einem Land binnen weniger Wochen sind illusorisch. Andere offizielle Kandidaten wie Georgien/Aserbaidschan stießen auf wenig Begeisterung.

Identität kaum zu greifen

Istanbul hat nun weder Olympia noch die EM bekommen. Neun Jahre nach der Äußerung der Idee wird die Elf-Staaten-Lösung aber tatsächlich umgesetzt. Und das Problem ist geblieben: Die Identität des Turniers, das sich oft in den drei Wochen in den Gastgeberländern entwickelt, ist kaum zu greifen. Wobei so ganz stimmt das auch wieder nicht, denn so eine schillernde Fußball-Bühne lässt sich ganz gut für eigene Interessen nutzen. Was zu den Herren Orban & Co. zurückführt.

Für den ungarischen Ministerpräsidenten ist diese EM äußerst wichtig. «Es ist ein gesamteuropäisches, großartiges Spiel, und es ist eine enorme Leistung, dass Ungarn dabei ist», erklärte Orban am EM-Eröffnungstag im staatlichen Rundfunk.

Für Orban, dem Kritiker den Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vorwerfen, ist Fußball nicht nur eine Prestigefrage, sondern auch eine «sehr, sehr persönliche Angelegenheit», sagte der Autor und Journalist Pal Daniel Renyi der Deutschen Presse-Agentur.

Passend zum EM-Beginn hat er sein Buch «Siegeszwang» (Gyözelmi kenyszer) veröffentlicht. Darin beschreibt der Autor, wie der Fußball nicht nur eine zentrale Rolle in Orbans Leben einnimmt. Sondern auch seine Auffassung von Politik und Macht bestimmt.

«Seit seiner Kindheit spielte er selbst Fußball, und er ist es, der neben seinem Wochenendhaus im Kindheitsort Felcsut bei Budapest eine Fußball-Akademie und dann ein Stadion errichten ließ», beschreibt Renyi die Fußball-Begeisterung des ungarischen Regierungschefs.

Partei nach Muster einer Fußballmannschaft

Die heute regierende, von Orban mitgegründete rechtsnationale Fidesz-Partei habe er «nach dem Muster einer Fußballmannschaft aufgebaut», sagte Renyi weiter. Wichtige Entscheidungen bespreche Orban mit Partei-Granden, hohen Beamten und Oligarchen in der VIP-Lounge des Felcsuter Stadions. Rituale, die den inneren Zusammenhalt stärken und die Massenmobilisierung fördern, entlehne Orban dem Fußball.

Ihn treibe die Vision um, den ungarischen Fußball wieder in die Höhen jener Zeiten zu führen, als das Nationalteam in den 1950er-Jahren zur Weltklasse zählte, als Ausnahmespieler wie Ferenc Puskas der ganzen Welt ein Begriff waren. Unsummen gab Orban für den Neubau oder die Renovierung von Fußballstadien aus. Für rund 20 dieser Bauten flossen aus dem Staatsbudget etwa 800 Milliarden Forint (umgerechnet rund 2,3 Milliarden Euro). Das Kronjuwel ist die erst kürzlich neu erbaute Puskas Arena, der Austragungsort der Budapester EM-Spiele. 190 Milliarden Forint hat allein sie gekostet.

Kritik der Opposition, dass das viele Geld besser in das marode Gesundheitswesen hätte fließen sollen, prallt an Orban ab. «Die Ausgaben für die Stadien sind gewiss nicht populär, aber sie verursachen Orban auch keinen nennenswerten politischen Schaden», meint Renyi.

Die Puskas Arena ist der einzige Schauplatz dieser EM, an dem die Spiele vor vollen Rängen über die Bühne gehen. Als der Ungarische Fußballverband dies im Frühjahr bekanntgab – und niemand zweifelt daran, dass Orban höchstpersönlich die Entscheidung traf -, kam noch viel Kritik auf, weil die Corona-Pandemie damals in Ungarn noch tobte und täglich um die 200 Corona-Tote gezählt wurden.

Corona und EM? Kein Thema mehr in Ungarn

Dank einer aggressiven Impfkampagne, bei der auch russische und chinesische Vakzine zum Einsatz kamen, und dank der auch anderswo zu beobachtenden Saisonalität ist die Zahl der Corona-Infektionen in Ungarn drastisch gesunken. «Corona und die EM ist jetzt selbst für die Opposition kein Thema mehr», konstatiert Renyi.

Es wirkt, als sei trotz des grassierenden Virus‘ schon jetzt alles wie früher. Und der Sport, nicht zuletzt der Fußball, ist auch in Aserbaidschan ein Instrument zur Imagepflege. Die Europaspiele 2015, seit 2016 die Formel 1 oder das Europa-League-Finale 2019 lenken Aufmerksamkeit auf Baku. Dass die UEFA auf Zuschauer in den Stadien pochte, war für die Hauptstadt am Kaspischen Meer kein Problem. Es kam ihr sogar entgegen.

In der ehemaligen Zarenmetropole St. Petersburg werden auch jene Bilder produziert, die man sich in Russland wünscht. In den modernen Fußball-Tempel dürfen 30.000 Fans, auf der Fanmeile an der berühmten Blutskirche feiern die Menschen, als habe es niemals eine Corona-Pandemie gegeben. Verbote und Einschränkungen gibt es sogar, denn die Zahlen steigen wieder. Doch in Kraft getreten sind sie erst einen Tag nach dem letzten Russland-Heimspiel in der Metropole.

Moskauer Fan-Zone geschlossen

Die Fan-Zone in der Hauptstadt Moskau wird indes geschlossen. Es ist eine von mehreren Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Das Riesenreich ist aber mittlerweile ein gerngesehener Gastgeber von Fußball-Großereignissen. Ob 2017 der inzwischen abgeschaffte Confederations Cup oder 2018 die WM mit 32 Mannschaften. Aber die Maschinerie darf weiter laufen.

Russlands EM-Organisationschef Alexej Sorokin kann sich die EM 2028 oder 2032 im Land vorstellen. «Es fällt mir schwer, für die Kollegen des Russischen Fußballverbands zu sprechen. Aber ich denke, das wäre sehr logisch», sagte er der Zeitung «Sport-Express». Eine eigenständige Bewerbung wäre angesichts der Infrastrukturbereitschaft und Erfahrung angemessen. Diese Worte dürften Putin gefallen.

Von Martin Moravec, Gregor Mayer, Patrick Reichardt, Wolfgang Jung und Thomas Eßer, dpa