Der leichte oder schwere Weg – wer ist jetzt der Topfavorit?

Die Engländer wähnen sich schon auf einer «Traum»-Route Richtung Heim-Finale. Erst im «Blockbuster», wie das Boulevardblatt «The Sun» schrieb, Deutschland schlagen, natürlich. Und dann scheint der Weg ins Heim-Finale leichter als für andere große Fußball-Nationen dieser EM.

Die Topfavoriten Frankreich, Italien, Belgien sowie Spanien und Portugal schmeißen sich dank des vorbestimmten Turnierwegs vor dem Endspiel in Wembley gegenseitig raus. Auf Deutschland oder England könnten im Halbfinale allerdings noch die Niederlande warten – und die sind selbstbewusst.

«Wir wollen ins Finale und dafür müssen wir dann auch stärkere Gegner schlagen», sagte Oranje-Trainer Frank de Boer nach der Qualifikation für die K.o.-Runde. «Wenn wir in Topform sind, dann können wir jeden schlagen. Aber wir müssen uns weiter steigern und uns die besten Spiele für die entscheidende Phase aufheben.» Mindestens Mitfavorit wollen die Holländer sein – und die anderen?

«Ab dem Achtelfinale beginnt ein neues Turnier»

Wie die Niederländer waren auch die Italiener und Belgier mit jeweils drei Siegen souverän durch die Gruppenphase spaziert. Das Trio habe «große Spiele gezeigt. Aber ab dem Achtelfinale beginnt ein neues Turnier», sagte der französische Torwart Hugo Lloris. In der deutschen Gruppe F hatte sich die Équipe Tricolore als einziges Team vorzeitig für die K.o.-Runde qualifiziert. Am Mittwochabend blieb bis zur letzten Sekunde spannend, ob die DFB-Auswahl, Cristiano Ronaldos Portugiesen oder die Ungarn rausfliegen.

Das deutsche Achtelfinale im Londoner Fußball-Tempel gegen England kommentierte Joshua Kimmich treffend mit: «Geil! Ein schöneres Spiel gibt es fast nicht.» Der Sieger, der dann im Viertelfinale in Rom gegen Schweden oder die Ukraine antritt, dürfte in jedem Fall in den engeren Kreis der zwei bis drei Topfavoriten aufrücken. Auf der anderen Seite des Turnierbaums könnte es in der Runde der acht besten Teams schon zu den Krachern Frankreich gegen Spanien und Belgien gegen Italien kommen.

Ob ein vermeintlich leichterer Turnier-Weg ins Finale wirklich der bessere ist, ist mindestens fraglich. Aus der jüngeren Vergangenheit kennt die DFB-Auswahl beide Seiten – der Weg ins WM-Endspiel 2002 führte über kleinere Gegner, das Finale gegen Brasilien ging verloren. Den WM-Titel 2014 holte Deutschland nach mitreißenden K.o.-Siegen gegen Frankreich und Brasilien.

«Im Fußball kann alles passieren»

In diesem Jahr wird zudem entscheidend sein, wie die Mannschaften die Reisen und Corona-Sorgen wegstecken. Außer den Engländern hat kein Team mehr ein Heimspiel. Auch nicht die hochgehandelten Italiener, die ihr Viertelfinale gegen Belgien oder Portugal nicht in Rom, sondern in München spielen würden.

«Wir tun gut daran, groß zu träumen», sagte der italienische Stürmer Federico Chiesa. «Wir sind hier, um die Trophäe hochzustemmen. Wir leben den Moment, sind glücklich zusammen zu sein und hier zu sein. Jetzt beginnt das Schönste.» Sein Trainer Roberto Mancini blieb etwas zurückhaltender: «Bei dieser EM gibt es Teams wie Frankreich, Portugal, Belgien, die sind Weltmeister, Europameister, Weltranglisten-Erster. Die haben sich über die Jahre entwickelt und haben uns einiges voraus, das ist ganz normal. Aber im Fußball kann alles passieren.»

Der belgische Nationaltrainer Roberto Martínez, der die Goldene Generation der Red Devils um Kevin De Bruyne endlich zum Titel führen will, nannte «Portugal, Frankreich und Spanien» als Teams, «die die EM schon gewonnen haben. Das macht psychologisch etwas mit ihnen. Sie haben diese Gewinner-Mentalität. Die drei gehören ganz klar zu den acht Titelkandidaten.»

Titelverteidiger Ronaldo äußerte sich nicht aktuell zu den Turnierfavoriten – sein Plan, die silberne Trophäe zum zweiten Mal in Folge zu gewinnen, dürfte aber trotz der klaren Niederlage gegen Deutschland am zweiten Gruppenspieltag klar sein. Am Sonntag in Sevilla treffen die Portugiesen allerdings auf Belgien. «Das ist ein schwieriger Gegner», mahnte Nationaltrainer Fernando Santos. «Wir werden ihn gut studieren und dann sehen, was das Beste für die Mannschaft ist.»

Von Jan Mies, dpa