Favoritin: Werths Weg zur Rekord-Olympiasiegerin

Statistiken sind nicht Isabell Werths Sache. Wie viele Goldmedaillen sie bisher gewonnen hat? Okay, sechs – das ist noch vergleichsweise übersichtlich. Aber die Zahl der Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften? Und der Olympia-Rekord von Birgit Fischer?

«Ich habe keine Ambitionen, auf Statistiken zu schauen», sagt die 52 Jahre alte Dressurreiterin aus Rheinberg vergnügt. Die erfolgreichste Reiterin der Welt, mit neun WM-Gold- und 20 EM-Goldmedaillen dekoriert, kann in Tokio die bisher führende Kanutin Birgit Fischer (59) als Nummer eins des deutschen Olympia-Rankings einholen. Doppel-Gold wäre dafür notwendig. Doch daran mag Werth noch nicht denken und schon gar nicht darüber reden. Sie will sich zunächst auf den Teamwettbewerb am Dienstag konzentrieren – und da spricht sie ihre Ambitionen eindeutig aus.

«Wir haben eine Erwartungshaltung an uns selber», sagt Werth über das Team mit Dorothee Schneider und Jessica von Bredow-Werndl. «Es wäre falsche Bescheidenheit, sich mit Silber oder Bronze zufrieden zu geben.» Das Trio will Gold, das ist klar. Es wäre das 14. für ein deutsches Dressur-Team bei Olympia.

Team «beängstigend gut»

«Das soll nicht großkotzig klingen», betont Werth. Aber angesichts der Ergebnisse in den zurückliegenden Jahren und der zuletzt gezeigten Form gibt es kein anderes Team, das als Gold-Favorit gelten könnte. Auch Bundestrainerin Monica Theodorescu erklärt zum angestrebten Olympiasieg in Tokio: «Am Ziel ändert sich nichts mehr.» Nachdem sie bei der letzten Olympia-Qualifikation gesagt hatte, dass Werth mit Bella Rose, Schneider mit Showtime und von Bredow-Werndl mit Dalera «beängstigend gut» waren.

Beängstigend ist das vor allem für die Konkurrenz. Die Dominanz der deutschen Dressur mit ihrer Rekordreiterin Werth zeigte sich zuletzt auch bei der WM in den USA und bei der EM in Rotterdam, wo Werth bei allen Starts Gold gewann. Gelingt ihr das auch in Tokio, würde sie mit Birgit Fischer gleichziehen, die im Kanu zwischen 1980 und 2004 acht Gold – und vier Silbermedaillen holte.

«Ich lasse mich nicht unter Druck setzen», sagt Werth dazu. Und sie fügt an: «Olympische Spiele haben ihre eigenen Gesetze.» Womit sie auf Hongkong anspielt, als sie nach dem Sieg mit dem Team auch im Einzel auf Goldkurs lag, bis ihr Pferd Satchmo in die Luft stieg, während einer Piaffe zur Seite sprang und sekundenlang die Zusammenarbeit verweigerte. «Scheiße, einfach nur scheiße» habe sie gedacht, sagte sie dazu bei der Verabschiedung des Pferdes vor zehn Jahren: «Wir waren schon ganz schön nah dran am Gold.»

Einzel-Konkurrenz stärker

Zudem weiß Werth, dass die Konkurrenz in Tokio im Einzel viel stärker als im Teamwettbewerb ist. Und diese Konkurrenz kommt vor allem aus ihrem eigenen Team. So schnappte sich bei den deutschen Meisterschaften Anfang Juni in Balve Jessica von Bredow-Werndl (35) mit Dalera die Titel im Special und in der Kür vor Werth auf Bella Rose und rückte selbst in die Rolle der olympischen Gold-Mitfavoritin.

Bei der bisher letzten internationalen Titelvergabe vor zwei Jahren in Rotterdam setzte sich Dressurkönigin Werth mit ihrer Stute Bella Rose in der EM-Kür noch knapp vor Schneider mit Showtime und von Bredow-Werndl mit Dalera durch. Das war eine der typischen Situationen, in der Werth stets ihre Bestform erreicht. Sie ist eine Wettkämpferin, die dann am stärksten reitet, wenn ihr die Konkurrenz im Nacken sitzt. «Das zeichnet sie aus», sagt Bundestrainerin Theodorescu.

Von Michael Rossmann, dpa