Triathlet Martin Schulz simulierte im beheizten Zelt bei 36 Grad und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit die Bedingungen in Tokio. Kugelstoßer Niko Kappel stand jeden Morgen eine halbe Stunde früher auf, um sich an die Zeitumstellung bei den Paralympics zu gewöhnen.
Radsportler Martin Schindler mietete sich zu Jahresbeginn privat für zehn Wochen eine Finca auf Mallorca, um zu trainieren. Der Behindertensport ist in der Spitze längst zum absoluten Hochleistungssport geworden.
DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher hat ein «weltweites Aufrüsten» registriert. Vollprofitum, Materialschlachten und zahlreiche Spezialisten rund um die Sportler sind inzwischen eher die Regel als die Ausnahme. Die ehrgeizigen Goalballer haben bei den Paralympics in Tokio einen eigenen Psychologen und einen Videoanalysten mit dabei. Insgesamt kümmern sich acht Ärzte und 16 Physios um die 134 Athleten. «Am Anfang waren wir froh, wenn bei Weltmeisterschaften ein Physio dabei war. An einen Arzt war nicht zu denken», sagt Prothesen-Sprinter David Behre, der 2009 begann: «Heute haben wir einen Biomechaniker dabei.»
Kein Vergleich zu den Anfängen
Auch Behres Trainer Karl-Heinz Düe (73), der seit 1992 amputierte Springer und Sprinter in Leverkusen trainiert und dabei Stars der Szene wie Heinrich Popow oder Johannes Floors formte, sagt: «Wenn ich das mit meinen Anfängen vergleiche, kann ich gar nicht beziffern, um wie viel Prozent das in Sachen Professionalisierung gestiegen ist.»
Verschiedene Auswüchse, die der Wertigkeit des Sports in der breiten Öffentlichkeit schadeten, wurden erfolgreich bekämpft. Dass ein Athlet mehrere Disziplinen dominiert, gibt es kaum noch. Nur, wer sich spezialisiert, kann zumindest in einer zur Weltspitze gehören. Dass ältere Athleten erfolgreich sind, ist meist nur noch in sitzenden Klassen möglich, wo die Kraft fast ausschließlich aus der Hüfte kommt. Oder bei Ausnahmetalenten wie Andrea Eskau (50), die als nicht nur topfit ist, sondern auch an ihren Rennrollstühlen tüftelt.
«Du muss alles auf die Karte Sport setzen», sagt Behre: «Du musst zweimal am Tag trainieren können und den Kopf frei haben. Sonst kommst du in der Weltspitze nicht mehr mit.» Der 34-Jährige ist seit kurzem Unternehmer und seit knapp einem Jahr Vater – und beendet konsequenterweise nach Tokio seine Karriere. «Ich kann die Intensität nicht mehr gehen», sagt er: «Dann würde der Sport untergehen.»
«Akklimatisierungs-Trainigslager»
Der kleinwüchsige Kappel, der in einer der stärksten und ausgeglichensten Klassen die Kugel stößt, mischt oben mit, weil er Profi ist. Während der Pandemie baute er sich einen Kraftraum im Keller. In Tokio verzichtete auf die Eröffnungsfeier, um die Vorbereitung auf den Wettkampf sechs Tage später nicht zu stören.
Wie die meisten Leichtathleten bezog er rund zwei Wochen vor Beginn der Wettkämpfe ein «Akklimatisierungs-Trainigslager» rund 1000 Kilometer von Tokio entfernt. Mit dabei war auch Johannes Floors, inzwischen als Nachfolger von Behre der führende Sprinter in der Klasse des einstigen «Blade Runners» Oscar Pistorius aus Südafrika.
Karrieren von klein auf aufgebaut
«Das letzte halbe Jahr habe ich komplett dem Sport gewidmet», berichtet Floors: «Im Studium habe ich ein Urlaubs-Semester eingelegt. Persönliche Kontakte hatte ich nur zu den wichtigsten Personen in meinem Umfeld, um überhaupt nichts zu riskieren.» Außerdem habe er in Tokio «alles dabei, um meine Routinen zu behalten und wenig Neues auszuprobieren». Das reicht von Trainings-Utensilien über Nahrungsergänzungsmittel bis hin zu Glücksbringern.
Jörg Frischmann, 1992 Paralympics-Sieger im Kugelstoßen und heute Teammanager der Leichtathleten, erzählt: «Als ich angefangen habe, habe ich direkt Medaillen bei internationalen Wettkämpfen gewonnen.» Das sei heute die absolute Ausnahme. «Die Zeiten sind lange vorbei», sagt sogar Behre. Karrieren werden meist von klein auf aufgebaut. «Als Quereinsteiger durch einen Unfall oder eine Krankheit ist es schwer, wenn nicht unmöglich, in die Weltspitze zu kommen.»