Der eine weinte vor Wehmut, der andere vor Enttäuschung: Was die beiden Routiniers Tony Martin und John Degenkolb in Brügge und Frankfurt für Bilder produzierten, taugte ideal als Sinnbild für das deutsche Radsport-Jahr 2021.
Es gab große Emotionen wie den bevorstehenden Rücktritt von Zeitfahr-Spezialist Martin oder Sprint-Star André Greipel. Es gab große Erfolge wie den von Nils Politt bei der Tour de France oder den Gesamtsieg von Maximilian Schachmann bei Paris-Nizza. Es gab aber auch herbe sportliche Enttäuschungen, die weit hinter den hochgesteckten Zielen blieben.
Nun steht für den Bund Deutscher Radfahrer (BDR) der mit großer Spannung ersehnte letzte Jahreshöhepunkt an: die Straßenrad-WM in Flandern, bei der man zehn Jahre nach der letzten Straßenrennen-Medaille gerne mal wieder einen Coup landen würde. «Zu den Favoriten zählen wir nicht, da sind ganz andere Nationen zu nennen. Die Belgier, die Niederländer, die Italiener, Julian Alaphilippe aus Frankreich und viele, viele andere», sagte der Sportliche Leiter Jens Zemke der Deutschen Presse-Agentur.
Politt als WM-Kapitän
Als Kapitän hat Zemke den Bora-hansgrohe-Profi Politt ausgerufen, der vom nominierten Team um Routinier Degenkolb und Top-Sprinter Pascal Ackermann bestmöglich unterstützen werden soll. «Wir haben eine sehr, sehr starke Klassikermannschaft. Gerade auch mit Nils, der es bei den Klassikern schon gezeigt hat», sagte Zeitfahr-Spezialist Martin, der dem BDR am Mittwoch im Mixed als Führungsfigur wie 2019 eine Medaille bescheren und den Kollegen damit auch Druck nehmen will.
«Wir sind sicherlich nicht die Favoriten und sollten diese Underdog-Rolle auch ausspielen», sagte «Panzerwagen» Martin zu den Chancen im WM-Straßenrennen. Der 36-Jährige selbst wird dann schon im Ruhestand sein und als Außenstehender verfolgen, wie sich die nächste Generation auf den Straßen Flanderns schlägt. Mit den Rücktritten von Martin (nach dem Zeifahr-Mixed) und Greipel (nach der Saison) geht im deutschen Radsport eine Ära zu Ende.
Doch nicht bei allen potenziellen Nachfolgern läuft das Jahr so reibungslos wie bei Politt oder Schachmann. Sprinter Ackermann, der frühere Tour-de-France-Vierte Emanuel Buchmann und Riesentalent Lennard Kämna erlebten eine schwierige Saison.
Einige Sorgenkinder
Ackermann blieb zu lange hinter seinen Möglichkeiten zurück und wurde vor der Tour aus dem Aufgebot genommen. Erst danach, als es für das Saisonhighlight zu spät war, reihte er Sieg an Sieg. Nach öffentlich ausgetragener Uneinigkeit mit Teamchef Ralph Denk wechselt der 27-Jährige zum neuen Jahr zum Team UAE-Emirates. Buchmann plagte ein Sturz beim Giro d’Italia, danach fuhr er spontan die Tour und dort hinterher. «Ein paar warme Worte und eine Umarmung helfen immer», sagte Denk zur schwierigen Situation des Ravensburgers.
Noch schwieriger ist die Lage bei Kämna, der beim größten Radrennen der Welt ein Jahr nach seinem famosen Etappensieg aussetzte. «Die vergangenen Wochen haben mich leider auch mental mehr blockiert, als ich mir das anfangs eingestehen wollte», begründete Kämna unmittelbar vor der Tour. Der 25-Jährige ist seither nicht in den Wettkampf zurückgekehrt, sein letztes Rennen datiert vom 9. Mai.
Außendarstellung verbesserungswürdig
«Man darf nicht vergessen, dass wir es nicht geschafft haben, unter die besten zehn Nationen zu kommen», bilanzierte Zemke. So könne man in Flandern auch nicht das komplette Kontingent an Fahrern nutzen. Es seien «einige zu nennen, die nicht auf ihrem gewohnten Level performt haben».
Neben dem sportlichen Auf und Ab, das jüngst sechs Medaillen bei der EM im italienischen Trient brachte, muss sich der BDR aber auch um seine Außendarstellung sorgen. Der Rassismus-Eklat um den derzeit suspendierten und bereits abgemahnten Sportdirektor Patrick Moster bei den Olympischen Spielen in Tokio hat tiefe Spuren hinterlassen. Zwar entschuldigte sich Moster und äußerte dabei «tiefstes Bedauern», doch den BDR dürfte das Thema spätestens wieder einholen, wenn der Funktionär 2022 auf seinen Posten zurückkehren soll.