Niclas Füllkrug ließ sich auch vom Bahn-Chaos mit Zugausfällen und Verspätung auf dem Weg ins Team-Quartier seine riesige EM-Vorfreude nicht verderben. Bei einer spontanen Rätselrunde im Abteil mit einer Schülergruppe auf Abiturfahrt holte sich der Torjäger noch vor dem öffentlichen Training der Fußball-Nationalmannschaft vor 4000 Fans eine Portion Fan-Stimmung für den finalen Countdown zum Heimturnier.
«Ich saß in gesellschaftlicher Runde und habe ein kleines Frage-und-Antwort-Spiel mit den Jungs gemacht. Es war lustig, es hat Spaß gemacht. Die Zeit ging schneller rum, als ich gedacht habe», erzählte Füllkrug gewohnt launig. Die Lacher hat «Lücke» immer schnell auf seiner Seite, ob bei den Abiturienten oder bei der Medienstunde im DFB-Quartier.
«Es waren ordentliche Jungs, die sehr höflich waren. Die machen jetzt eine schöne Abifahrt», berichtete der 31-Jährige weiter, bevor seine eigene Fußball-Studienfahrt mit der Rückkehr der DFB-Auswahl auf den Trainingsplatz vier Tage vor dem Turnierauftakt ordentlich Tempo aufnahm.
Nagelsmann schärft EM-Sinne
Auch bei Julian Nagelsmann beginnt mit dem Start in die erste Turnierwoche eine neue Eskalationsstufe. Bis zum Anpfiff am Freitag (21.00 Uhr/ZDF/Magenta TV) in München gegen Schottland müssen alle Sinne final geschärft werden.
Unterstützung bekam der Bundestrainer von einem, der weiß, wie es ist, in der Verantwortung für ein Sommermärchen zu stehen. «Du brauchst einen Dreier gleich am Anfang, um die Stimmung hochzubringen», sagte Jürgen Klinsmann, der Bundestrainer bei der WM 2006. Dann könne Euphorie entstehen. Dann sei «alles möglich.» Die DFB-Elf gehöre zu einem Pool von Titelanwärtern, erzählte Klinsmann am Montag bei einem Treffen der Europameister von 1996 im südbadischen Rust.
Nachfolger der EM-Sieger zu werden, ist Nagelsmanns Ziel. «Das Golden Goal von Oliver Bierhoff ist mir in großer Erinnerung geblieben», erzählte der Bundestrainer. Doch die letzten Turniere dürfen keine Hypothek sein. «Die jüngsten Erinnerungen an die EM sind nicht so gut, aus deutscher Sicht. Am Ende ist es immer abhängig davon, wo du gerade im Job bist und wie groß der Fokus auf die eigene Mannschaft ist. Ich hoffe, dass die Erinnerungen an die EURO 2024 in ein paar Jahren mal sehr positiv sein werden», sagte Nagelsmann.
Ballermann und Gebärdensprache
Füllkrug ist ein Seismograph für alle Themenbereiche. Ob persönlicher Ballermann-Hit oder Gebärdensprache. «Fülle» hat immer eine Antwort. Zu Fußball-Themen sowieso. Und auch damit ist er für Nagelsmann besonders wertvoll. So war es auch nicht verwunderlich, dass der Dortmunder – wie auf der Bahnreise auf dem Pressepodium «typische Fragen» beantworten musste – über seinen Kernbereich als Fachmann für das Toreschießen hinaus.
In der von Fans und Experten geführten Torwart-Debatte um den wenige Tage vor dem Eröffnungsspiel schwächelnden Manuel Neuer bezog Füllkrug eindeutig Stellung. «Wir haben eine klare Hierarchie in der Mannschaft. Wir sind verwöhnt auf der Torhüterposition. Manu gibt jeder Mannschaft einen wahnsinnigen Rückhalt. Wir stehen alle total hinter ihm», sagte er.
Die Basta-Entscheidung pro Neuer sei in der Nationalmannschaft respektiert und akzeptiert, versicherte Füllkrug. Obwohl – wie er auch den Abiturienten erzählt hatte – Neuers Konkurrent Marc-André ter Stegen im EM-Kader zu seinen besten Kumpel gehöre.
Torwünsche für Havertz
Hierarchie. Das ist das Thema, das Füllkrug für den großen EM-Traum in den Mittelpunkt rückt, und sei es zumindest vorerst noch zu seinem eigenen Nachteil. Seine Backup-Rolle im Angriff hinter Kai Havertz hat er akzeptiert. Dem Konkurrenten wünschte er einen Tag vor dessen 25. Geburtstag vorab den größtmöglichen EM-Erfolg. «Kai hat meine maximale Unterstützung. Ich wünsche ihm jedes Tor», sagte Füllkrug.
Der BVB-Angreifer hat in seiner Vita als Spätberufener eine Art Fußball-Bauernschläue entwickelt. Er durchschaut das Geschäft und kann die Weisheiten wie wenige sonst humorvoll transportieren. Wenn er nicht bei der EM wäre, würde er bei «Omma und Oppa» als Fan mitfiebern. Der Garten der Füllkrugs sei schon wie bei allen Turnieren schwarz-rot-gold geschmückt.
Die ihm nun zugedachte Joker-Rolle musste er natürlich im Gespräch mit Bundestrainer Julian Nagelsmann akzeptieren. «Ich bin da eher in einem Angestelltenverhältnis. Der Trainer sitzt am längeren Hebel», sagte der Mittelstürmer, der in 16 Länderspielen immerhin elf Tore erzielen konnte. Mit vier Toren in den zehn Spielen unter Nagelsmann als Bundestrainer liegt er sogar ein Tor vor Havertz – und in der internen Torjägerliste ganz vorne.