Abu Dhabi: Ort von Hamiltons «schlimmsten Befürchtungen»

Lewis Hamilton sitzt fassungslos in seinem Mercedes. Der Formel-1-Superstar weiß, wie der Ablauf kurz nach so einem Rennende ist. Er hat das schließlich schon so oft in seiner Karriere gemacht. Gurt lösen, aus dem Wagen steigen und den Fokus wieder nach vorne richten. An diesem 12. Dezember vor einem Jahr geht das aber nicht.

Hamilton hat in einem der denkwürdigsten und umstrittensten Finale der Motorsport-Königsklasse den WM-Titel an Max Verstappen im Red Bull verloren. Anstatt nach dem so gut wie eingefahrenen historischen achten Triumph von Glückshormonen geflutet zu werden, verharrt Hamilton fast ohnmächtig im Chassis.

Eigenwilliges Safety-Car-Prozedere

«Ich hatte keine Kraft mehr. Ich würde sagen, das war einer der schwierigsten Momente, die ich seit langer, langer Zeit erlebt habe», erzählte Hamilton später, der nun zum Saisonfinale am Sonntag (14.00 Uhr/Sky) hierher wieder zurückkehrt.

In jener Nacht am Persischen Golf fühlte sich der 37-Jährige betrogen. «Meine schlimmsten Befürchtungen wurden lebendig. Ich dachte mir, dass sie mich auf keinen Fall betrügen werden», sagte Hamilton der «Vanity Fair» in einem Interview. «Das ist unmöglich, das wird nicht passieren, ganz sicher nicht.»

Was genau passierte, hat mit dem damaligen Renndirektor Michael Masi zu tun. Der später geschasste Australier legte das Safety-Car-Prozedere so eigenwillig aus, dass Verstappen mit einem Überholmanöver auf der letzten Runde noch am ungläubigen Hamilton zu seiner ersten WM-Krönung vorbeiziehen konnte.

«Wir werden niemals darüber hinwegkommen»

«Nein, Michael, nein, nein, Michael, das war so nicht richtig!», rief Mercedes-Teamchef Toto Wolff damals hilflos über Funk. Er kratzte sich am Kopf, immer wieder, tigerte durch die Box und war entsetzt. «Wir werden niemals darüber hinwegkommen, das ist nicht möglich», sagte Wolff nach diesem unglaublichen Adrenalin-Finale.

Seit jenem Tag im Dezember ist eine Menge passiert in der Formel 1. Von Rücktrittsgerüchten um Hamilton über den juristischen Druck von Mercedes auf den Motorsport-Weltverband Fia und die folgende Absetzung Masis bis zum vorzeitigen zweiten Titelgewinn Verstappens.

In São Paulo kollidierten Hamilton und Verstappen am Wochenende sogar wieder einmal. Die Stewards wiesen dem Niederländer, der später mit der Verweigerung der Teamorder für mächtig Zoff bei Red Bull sorgte, die Schuld für das unbedachte Überholmanöver zu und ließen ihn eine Fünf-Sekunden-Strafe verbüßen. «Ich denke, es ist ganz natürlich, dass man ein bisschen zur Zielscheibe wird, wenn man den Erfolg hat», sagte Hamilton gleichmütig. «Aber das ist in Ordnung. Es ist nichts, womit ich nicht schon vorher zu tun hatte.»

Suchte Trost in den Armen seines Vaters

Dass Hamilton auf eine entsprechende Frage hin zuletzt nochmal darauf verwies, dass das Finale 2021 schmutzig abgelaufen sei, lässt Red Bull wiederum kalt. Er könne das «überhaupt nicht nachvollziehen, der Rennleiter hat entschieden», erwiderte Red-Bull-Motorsportberater Helmut Marko. Man könne das Thema nicht immer wieder «hochkommen lassen».

Es ist aber Abu Dhabi. 343 Tage danach am Renntag. Und das Thema wird wieder hochkommen an einem Ort, wo Hamilton vor einem Jahr erst Trost in den Armen seines Vaters Anthony fand.

«Er umarmte mich und ich glaube, er sagte etwas wie: ‚Ich möchte, dass du weißt, wie stolz ich auf dich bin’», erzählte Lewis Hamilton. «Wenn dein Vater dich auf diese Weise umarmt, ist das eine der innigsten Dinge.»

Martin Moravec, dpa