Adam Yates hatte kein schlechtes Gewissen, nachdem er seinem Zwillingsbruder Simon bei der Radsport-Party im Baskenland den Auftaktsieg und das erste Gelbe Trikot bei der 110. Tour de France weggeschnappt hatte. «Das ist sehr speziell, aber er ist auch ein Rivale», sagte Adam Yates.
Kurz zuvor war er nach 182 Kilometern mit Start und Ziel in Bilbao mit ausgebreiteten Armen vier Sekunden vor seinem Bruder über die Ziellinie gerollt und hatte anschließend mit UAE-Teamkollege und Superstar Tadej Pogacar, der als Dritter vier wertvolle Bonussekunden einfuhr, im Zielbereich gefeiert.
So ein Bruderduell hat die Tour seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen. 2011 hatte auf der 18. Etappe der Luxemburger Andy Schleck vor seinem Bruder Fränk gewonnen. «Ich kenne ihn sehr gut, wir reden jeden Tag miteinander. Wir sind sehr eng. Diese Erfahrung mit ihm zu teilen, ist wirklich schön. An einer Stelle hätte er mich fast abgehängt», berichtete Adam Yates, der dieses Mal der Schnellere war. Bei der Geburt am 7. August 1992 war noch Simon wenige Minuten schneller gewesen.
Pogacar mit erstem Zeichen
Jubeln durfte auch Pogacar. Der zweimalige Tour-Champion ist durch die vier Bonussekunden im Zweikampf mit dem dänischen Titelverteidiger Jonas Vingegaard erst einmal im Vorteil. «Das war ein guter Start. Der Anstieg war hart, aber es konnten nicht viele mitgehen. Adam hat den Vorteil daraus gezogen», sagte Pogacar. An der Hierarchie ändert sich im UAE-Team aber nichts. «Ich bleibe auf dem Boden. Ich bin hier für Tadej, er ist der Boss», sagte Sieger Yates, der 2020 bereits vier Tage das Gelbe Trikot getragen hatte.
Das deutsche Mini-Aufgebot mit sieben Radprofis – so wenig wie letztmals 1999 – hatte sich bei der Achterbahnfahrt mit fast 3300 Höhenmetern nicht groß in Szene setzen können, was vielleicht auch schon ein Fingerzeig für die Tour ist. Mehr als vereinzelte Achtungserfolge sind von Emanuel Buchmann und Co. in diesem Jahr wohl nicht zu erwarten. Immerhin startete Georg Zimmermann einen ersten Angriff auf das Bergtrikot, verlor aber den entscheidenden Sprint am vorletzten Berg gegen Neilson Powless.
Mas und Carapaz schon raus
Ganz ohne Sturz ging auch die Auftaktetappe nicht über die Bühne, und dabei erwischte es gleich zwei namhafte Fahrer. Der Vuelta-Zweite Enric Mas (Spanien) und Olympiasieger Richard Carapaz (Ecuador) kamen auf der Abfahrt des Cote de Vivero zu Fall. Mas musste das Rennen bereits aufgeben, Carapaz fuhr weiter, und gab später auch auf. Nach dem Tod von Gino Mäder, der Mitte Juni auf einer Abfahrt bei der Tour de Suisse in eine Schlucht gestürzt und einen Tag später gestorben war, hatte die Sicherheitsdebatte im Vorfeld die Tour begleitet – und dürfte auch weiter ein großes Thema bleiben.
Doch alle Augen waren auf den Zweikampf der beiden großen Favoriten beim steilen Anstieg zum Cote de Pike gut zehn Kilometer vor dem Ziel gerichtet. Bei Steigungen von bis zu 15,6 Prozent fuhr Pogacar eine erste Attacke, der nur wenige Fahrer folgen konnten. Aber Vingegaard klebte förmlich am Hinterrad des Slowenen. Auf der Abfahrt lief dann eine größere Gruppe wieder zusammen, aus der sich die beiden Yates-Brüder lösten.
Begeisterte Basken
Am Straßenrand sorgten unterdessen mehrere hunderttausend Zuschauer für eine beeindruckende Kulisse, was für Simon Geschke keine Überraschung war. «Ich bin fast jedes Jahr bei der Baskenland-Rundfahrt. Die Stimmung bei den Basken spielt in der obersten Liga mit. Die Basken sind völlig verrückt», sagte der 37-Jährige, der im vergangenen Jahr neun Tage im Bergtrikot unterwegs gewesen war. Dass dieses Mal nicht wie beim letzten Tour-Start im Baskenland 1992 durch den großen Miguel Indurain ein Spanier das erste Gelbe Trikot an sich riss, tat der Begeisterung in Bilbao keinen Abbruch.
Das dreitägige Tour-Gastspiel in Spanien wird am Sonntag mit der zweiten Etappe über 208,9 Kilometer von Vitoria-Gasteiz nach San Sebastian fortgesetzt. Auch dann warten wieder fünf Bergwertungen. Spätestens am Jaizkibel, dem letzten Anstieg gut 16 Kilometer vor dem Ziel, dürften die Sprinter abgehängt sein, wenn es auf einer Länge von acht Kilometern im Schnitt 5,3 Prozent bergauf geht.