Alle Macht für Nagelsmann: Kadershow als EM-Statement

Jetzt gehört die Bühne nur noch Julian Nagelsmann. Nach dem kuriosen und unterhaltsamen Nominierungs-Feuerwerk mit Kaderpaten von Dachdeckerin Chiara bis Showmaster Günther Jauch richten sich alle Blicke auf den Bundestrainer. Und nichts liebt Nagelsmann mehr als das.

29 Tage vor dem Eröffnungsspiel der Nationalmannschaft bei der Heim-EM gegen Schottland wird er in der VW-Location im Zentrum von Berlin am Donnerstag (13.00 Uhr) referieren können, wie und mit wem er als jüngster Bundestrainer in der DFB-Geschichte zum Impresario eines neuen Fußball-Sommermärchens werden will. Die allermeisten Personalien sind geklärt. Jetzt ist Zeit und Raum für sein EM-Statement. 

Natürlich wollen die Fans weiterhin wissen, was das Problem mit Mats Hummels und Leon Goretzka ist. Warum ihre Namen bei der Häppchen-Show nicht fielen. Natürlich bleibt der Plan mit jungen Backups wie Aleksandar Pavlovic oder Chris Führich gewagt. Aber die Kernbotschaft des Bundestrainers bleibt nach dem Zündfunken im März mit den Testsiegen gegen Turnierfavorit Frankreich (2:0) und den ewigen Erzrivalen Niederlande (2:1) unverändert. 

«Wenn du an einem Turnier teilnimmst, an einem Spiel teilnimmst, sollte die Grundidee sein, selbiges zu gewinnen», sagte der 36-Jährige kürzlich bei Magenta TV. Soll heißen: Da geht was in vier Wochen für Fußball-Deutschland. Sportlich und emotional. «Das Ergebnis ist am Ende schon auch immer entscheidend. Aber erst einmal geht es darum, dass wir so spielen, dass jeder Deutsche sich damit identifizieren kann und sagt, es macht mir Spaß, dieser Mannschaft zuzusehen», lautete Nagelsmanns Botschaft bei einem Fan-Talk.

Keine Leaks, sondern Fan-Spaß

«Es geht darum, viele emotionale Momente zu kreieren für dieses Land, für die Fans, für die Kids, für die Leute, die im Stadion sind, die vor den Fernsehgeräten sind, die in den Straßen unterwegs sind», führte Nagelsmann weiter aus. Spaß hatten die DFB-Fans – wenn man von den Hummels- und Goretzka-Anhängern absieht – schon in den vergangenen Tagen. 

Als Tagesschausprecher Jens Riewa am Sonntag Nico Schlotterbeck als ersten EM-Akteur bestätigte, dachten alle noch an einen der üblichen Leaks vor einer Turnier-Nominierung. Bald war klar: Es steckt System dahinter. Munter, fröhlich, lustig wurden nach und nach immer mehr Nagelsmann-Spieler online für die EM benannt. Von einer Brötchentüte bis zum Gratis-Döner, alles war dabei. Und der Bundestrainer schaute, vermutlich auch amüsiert, von daheim aus zu. Die Kärrnerarbeit der Kaderpräsentation wurde ihm multimedial abgenommen. Am Donnerstag kann er mit seinen EM-Botschaften im Mittelpunkt stehen. 

Wie aus der Mottenkiste erscheinen die staatstragend bis gewollt symbolhaft orchestrierten Nominierungen vergangener Turniere wie im Bergsteiger-Stil vor der Alpen-EM 2008 auf der Zugspitze. Auch die Pappkameraden von Jürgen Klinsmann vor dem letzten Sommermärchen 2006 sind schon lange verstaubt. DFB-Pressesprecherin Franziska Wülle wird die geniale Idee mit den Social-Media-Clips in Häppchenform zugeschrieben. Und Nagelsmann und sein Management sind dem Vernehmen nach begeistert. 

Kroos-Podcast und Döner-Bude

Am Mittwoch ging der Reigen der EM-Zusagen weiter. Robert Andrich von Nebenmann Toni Kroos höchstselbst im Podcast berufen. Joshua Kimmich von GZSZ-Schauspieler Wolfgang Bahro alias Jo Gerner. Antonio Rüdiger per Clip aus seiner liebsten Döner-Bude in Kreuzberg. Und dann noch Kapitän Ilkay Gündogan auf einem Werbeplakat am Alexanderplatz, im Herzen der Hauptstadt – dem EM-Finalort am 14. Juli.

Gündogan hatte den Personalkurs des Bundestrainers schon im März gelobt, obwohl viele seine Rolle als Kapitän durch das Comeback von Kroos geschwächt sahen. Er sei froh, «dass wir einen Bundestrainer haben, der eine klare Richtung vorgibt und auch mal unangenehm sein kann», sagte er der «Süddeutschen Zeitung». Der Wischiwaschi-Kurs der Spätphase von Joachim Löw und dem danach gescheiterten Hansi Flick als Bundestrainer sind Geschichte.

Wer heute überrascht ist, dass Hummels und Goretzka, oder auch Robin Gosens von Union Berlin und Kevin Trapp von Eintracht Frankfurt, im Aufgebot fehlen, der hätte im März genau zuhören müssen. «Es sind selten Mannschaften mit 20 Topstars, die erfolgreich sind», sagte Nagelsmann damals zu seinem Erneuerungskurs mit den frischen und mutigen Stuttgartern um Linksverteidiger Maximilian Mittelstädt. 

Hummels Tor zum Endspiel wertlos für EM

«Junge Herausforderer» habe er gesucht. «Die Stimmungsträger sind, die diese Rolle akzeptieren.» Kein Reviergehabe von gealterten Platzhirschen. Da hätte Hummels offenbar noch so viele Tore für den BVB auf dem Weg ins Champions-League-Finale schießen können. «Generell ist die Idee, dass wir einen Großteil des Stamms jetzt dabeihaben. Sonst wäre die Entscheidung hirnrissig», erklärte der Bundestrainer seine Kaderpolitik. 

Seine eigene Vita lebt er damit konsequent weiter. Selbst wegen früher Verletzung nie zum Profi in höheren Ligen aufgestiegen, setzt Nagelsmann auf Spirit mehr als auf Erfahrung. «Gegen Kylian Mbappé tun sich viele schwer, auch mit 200 Champions-League-Spielen», sagte er. 

Es sind kleinere Stellschrauben, die Nagelsmann noch selbst verkündet. Darf Stuttgarts Alexander Nübel als eventuell vierter Torwart hinter Manuel Neuer, Marc-André ter Stegen und möglicherweise Oliver Baumann mit ins Trainingslager? Wer profitiert letztlich von der Aufstockung auf bis zu 26 EM-Spielern? Stuttgarts Deniz Undav? Hoffenheims Maximilian Beier oder doch Jan-Niklas Beste vom 1. FC Heidenheim, der selbst nicht mehr mit einem EM-Anruf rechnet?

Potenzielle Randfiguren in jedem Fall. Und Turnier-Lehrlinge – wie Nagelsmann, der auch zum ersten Mal bei einem Großereignis eine Fußball-Nation anführt. Ein Risiko? Nein, meint Nagelsmann selbst. «Ich mag nicht, dieses „Was passiert wenn?“ Das bringt uns nichts. Da ist das Leben, das ist groß. Und da ist der Fußball, und der macht immer Spaß. Wenn es uns erdrückt, dann hören wir auf mit Fußball», sagte Nagelsmann im März – und gewann am folgenden Tag mit 2:0 auswärts in Lyon gegen Frankreich.

Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa