Alle mögen «Bambi»: Musiala plötzlich Wembley-Trumpf

Wie ein scheues Rehkitz bewegt sich Jamal Musiala nicht auf dem Fußballplatz. «Bambi», wie Bayern-Kollege Leroy Sané Deutschlands jüngsten EM-Spieler taufte, zeichnet sich vielmehr durch eine forsche Furchtlosigkeit auf, wenn er sich mit dem Ball am Fuß in eher schlangenhaften Bewegungen durch engste Räume und um die Gegenspieler windet. So wie in seinen neun EM-Minuten gegen Ungarn.

Da hieß es für Musiala – von der Tribüne auf die große EM-Bühne: Über 25 Millionen TV-Zuschauer erlebten beim zittrigen 2:2 der Nationalelf den ersten Turnierauftritt des 18-Jährigen, der als letzter Joker Löw das überlebenswichtige Tor seines Münchner Vereinskollegen Leon Goretzka mit einem Dribbling einleitete. «Musiala war frech», erklärte der Bundestrainer anerkennend.

Besonderer Wembley-Trumpf

In dem halben Engländer hat Löw vor dem EM-Achtelfinale am Dienstag gegen England plötzlich einen besonderen Wembley-Trumpf im Ärmel. Musiala ist voller Vorfreude. «Das ist ein Spiel gegen meine zweite Heimat. Es wird ein cooles Spiel. Sie haben eine sehr gute Squad», sagte er. Englisch und Deutsch fließen oft ineinander bei dem Jungprofi, der in Stuttgart geboren ist, aber im Alter von sieben Jahren mit seiner Familie nach England zog und dort aufwuchs.

Beim FC Chelsea wurde Musiala ausgebildet, bis er als 16-Jähriger zum FC Bayern wechselte. Er pendelte zwischen deutschen und englischen Juniorenauswahlteams, ehe ihn Löw Anfang des Jahres bei einem Besuch in München zur endgültigen DFB-Wahl überredete. «Herr Löw hat mir bei diesem Treffen einen sehr klaren Weg für mich in der Nationalmannschaft aufgezeigt», sagte Musiala Ende Februar, als er sein «Ja» zu Deutschland verkündete. Unter Hansi Flick ist er in München in der EM-Saison zu einem funkelnden Juwel geworden.

Kein Kandidat für die Startelf

Gegen Frankreich und Portugal saß Musiala noch auf der Tribüne und schaute den Weltstars Kylian Mbappé und Cristiano Ronaldo zu. Es war eine Art Weiterbildung. «Jamal muss noch ein bisschen lernen», meinte Löw. In der Vorbereitung hatte er zudem wegen Adduktorenproblemen kaum trainieren können. Doch gegen Ungarn, als die Not groß war und Löw die DFB-Rente drohte, kam sein Moment. Löw schickte ihn ohne viele Worte aufs Feld. «Ich sollte mir Sachen zutrauen, im Halbraum spielen, aggressiv nach vorne gehen. Das habe ich einfach gemacht.»

Natürlich ist der viermalige Nationalspieler jetzt kein Kandidat für die Startelf gegen England. Aber seine Unbekümmertheit könnte in dem K.o.-Spiel irgendwann doch wieder gefragt sein. «Ich bin einfach reingekommen mit confidence», sagte Musiala nach dem Ungarn-Spiel, also mit Selbstvertrauen, mit Überzeugung. Er fürchtet sich nicht.

«Bambi» im Team

Sie sind alle überzeugt von ihm im Teamquartier in Herzogenaurach, wo er als Jüngster in einer Vierer-WG mit Teamsenior Manuel Neuer (35) wohnt: Löw, die anderen Trainer – und die Bayern-Kollegen um Neuer sowiewo. Alle mögen sie den noch etwas schmächtigen Angreifer, über den Serge Gnabry sagt: «Er ist ein ganz angenehmer Junge.»

Und der Spitzname «Bambi» passe auch. «An seinen Bewegungen, die sehr flüssig sind, kann man einen Zusammenhang erkennen. Er kommt immer an seinen Gegenspielern vorbei. Zudem ist er noch extrem jung und ein lieber, süßer Kerl», sagte Gnabry liebevoll.

Die älteren Akteure kümmern sich um den Teenie. Mucki-Mann Goretzka etwa ist bemüht, Musiala zu mehr Krafttraining zu animieren. Wer im «Home Ground» bei ihren Tischtennisduellen verliert, muss deswegen Liegestütze machen. «Wenn ich dich schon nicht ins Gym kriege», kommentiert Goretzka ein Video, bei dem Musiala die Oberarme stählt.

Hohe Erwartungen

Vom Fußball-Bambi Musiala ist noch viel zu erwarten, wenn nicht schon bei dieser EM, dann sicherlich bei späteren Turnieren. DFB-Direktor Oliver Bierhoff schwärmte schon im Trainingslager in Tirol über Musiala, der sich «mutig für uns entschieden» hat. «Er hat die Leichtigkeit mit dem Ball am Fuß, auch in engen Räumen. Er kann uns mit seinen Dribblings und seinem Torabschluss helfen. Er kann eine Waffe für uns sein», sagte die ehemalige Torjäger-Kante Bierhoff.

Musialas DFB-Entscheidung könnte sich als weise erweisen. Zumal auf Löw nach der EM Flick folgt, sein bisheriger Lehrer und Förderer beim FC Bayern. Beim Rekordmeister werden sie auch froh sein, dass sie Musiala zum 18. Geburtstag mit einem langfristigen Vertrag bis 2026 binden konnten. Im turbokapitalistischen Fußball schießen die Preise oftmals rasant nach oben. Musialas Marktwert wird aktuell auf 38 Millionen Euro taxiert – Tendenz rasch steigend. Ein Joker-Tor in Wembley gegen England, das wäre eine märchenhafte Fußball-Story.

Von Klaus Bergmann und Arne Richter, dpa