«Alles oder Nichts»: Im Radsport geht die Abstiegsangst um

Fabian Wegmann dürfte in diesen Tagen exzellente Laune haben. Der frühere Radprofi und heute geschätzte TV-Experte ist im Nebenjob sportlicher Leiter des Münsterland Giro. Und beim international bestenfalls zweitklassigen Rennen drängen sich in diesem Jahr die Top-Teams aus der WorldTour.

Gleich zehn Mannschaften aus der Eliteliga des Radsports gehen am 3. Oktober an den Start. Das ist eine Verdopplung gegenüber dem Vorjahr. Der Grund ist so profan wie existenzbedrohend: Im Radsport ist der Abstiegskampf ausgebrochen.

«Für einige Teams geht es um Alles oder Nichts», sagt Wegmann. Was er meint: Nur die besten 18 Mannschaften der Welt qualifizieren sich für weitere drei Jahre sportlich für die WorldTour und damit automatisch für die wichtigsten Rennen wie die Tour de France. Es gibt Geldgeber im von Sponsoren so massiv abhängigen Radsport, die sich nur wegen der sommerlichen Werbefläche in Frankreich engagieren. Da aktuell zwei zweitklassige Teams unter den Top 18 rangieren, müssten zwei etablierte WorldTour-Rennställe absteigen.

UCI-Dreijahreswertung

Ein Kriterium für die Teilnahme an diesem elitären Club ist die Dreijahreswertung des Weltverbandes UCI. Das Problem: Vielen Teams ist offenbar erst zu Beginn der Saison eingefallen, dass man ja nun im letzten Jahr der Periode ist. Momentan liegen das belgische Lotto-Team mit Roger Kluge und die Mannschaft Israel-Premier Tech mit dem viermaligen Tour-Sieger Chris Froome auf den Plätzen 19 und 20. Da haut man dann drei Wochen vor Saisonende am 18. Oktober auch mal auf den Panik-Knopf.

So wurde dem Heidelberger Max Walscheid von seinem Team Cofidis untersagt, bei der WM in Australien seinen Titel im Mixed-Zeitfahren zu verteidigen. «Mein Team möchte, dass ich in Europa bleibe und UCI-Punkte jage», teilte der 29-Jährige mit. Statt in Australien fuhr der endschnelle Mann den Grand Prix d’Isbergues in Frankreich und den Omloop van het Houtland Middelkerke-Lichtervelde in Belgien.

Dass die Teams ihre besten Fahrer über die Dörfer und damit auch zu Rennen wie dem Münsterland Giro schicken, liegt an der ebenso komplexen wie fragwürdigen Punkteverteilung des Systems. Für einen Sieg in Münster gibt es 200 Punkte, für einen Etappensieg bei der Tour de France zum Beispiel nur 120 Punkte. Simon Geschke wurde für seinen aufopferungsvoll erkämpften zweiten Platz in der Bergwertung der Tour gerade mal mit 50 Punkten belohnt. «Da gibt es Leute, die Algorithmen entwickeln, bei welchen Rennen die Wahrscheinlichkeit groß ist, Punkte zu machen», sagte Rolf Aldag, Sportchef beim bequem geretteten Rennstall Bora-hansgrohe, der Sportschau.

Froome-Team akut gefährdet

Und um die Situation noch skurriler werden zu lassen, geht es den Top-Teams bei diesen Rennen nicht einmal zwangsläufig um den Sieg. Drei Fahrer in den Top Ten könnten deutlich mehr Punkte bringen als ein Gewinner. Im vergangenen Jahr holte das Team QuickStep in Münster mit fünf Fahrern unter den Top 20 gleich 375 Zähler. «Die Regel kommt ja nicht überraschend», sagt der vom Abstiegskampf unmittelbar betroffene Kluge der F.A.S. «Man hört im Feld oft, dass wir vorne die Tempoarbeit übernehmen sollen, weil wir ja müssten, um uns zu retten.»

Etwa 900 Punkte trennen Kluges Lotto-Team aktuell von der Arkea-Mannschaft, die auf dem letzten Nicht-Abstiegsplatz steht. Das ist bereits eine gewaltige Hypothek, aber aufholbar. Das Israel-Team ist dagegen bereits 1000 Punkte schlechter als Lotto und kaum noch zu retten. Deren Besitzer, der Milliardär Sylvan Adams, hat deshalb bereits mit einer Klage gedroht und von einem «Bastard-System» gesprochen. Und Jonathan Vaughters, Teamchef der auf Platz 16 stehenden Equipe EF Education, meinte: «Im Radsport ist es nicht Aufstieg/Abstieg, es ist Aufstieg/Tod.»

Aktuell gehen Gerüchte um, dass die UCI einlenken und die Anzahl der Mannschaften für drei Jahre auf 20 erhöhen könnte. Raum für eine Begründung könnte die Corona-Pandemie geben. Fast jedes Team musste in den vergangenen beiden Jahren einen oder gleich mehrere Fahrer wegen einer Infektion aus einem Rennen nehmen – und verlor so potenzielle Punkte. Allerdings stünde man mit der Ausnahme in drei Jahren wieder am selben Punkt. Es bedarf eher einer parallelen Überarbeitung des Systems.

Von Tom Bachmann, dpa