Die Spitzenkräfte haben ihr nach-olympisches Tief überwunden, auf den Tribünen feuerten bei den deutschen Meisterschaften in Berlin endlich wieder Zuschauer an.
Nach schwierigen Corona-Jahren und Umbrüchen im Verband auf zentralen Leistungssport-Positionen herrscht im deutschen Turn-Lager knapp sieben Wochen vor den Europameisterschaften in München Aufbruchstimmung. «Absolut. Nach Tokio war so ein halbes Jahr ein bisschen Unsicherheit drin», sagte Thomas Gutekunst, Sportdirektor im Deutschen Turner-Bund (DTB).
Man habe sich sortieren müssen und vieles analysiert, in welche Richtung man gehe. «Jetzt seit Frühjahr ist vieles geklärt und wir können in Ruhe arbeiten. Das merkt man. Deswegen ist es schön, dass man zeigen kann, wie weit wir sind. Die Richtung stimmt und ich bin da wirklich positiv», sagte der 39-Jährige. Sowohl die Männer als auch die Frauen sollen bei der EM ins Mannschaftsfinale einziehen.
Gutekunst hat vor knapp einem Jahr die Nachfolge von Langzeit-Sportdirektor Wolfgang Willam angetreten und ist Teil der neuen Sportführung. Männer-Bundestrainer Valeri Belenki wurde fest bis zu den Olympischen Spielen in Paris 2024 angestellt. Die langjährige Frauen-Bundestrainerin Ulla Koch rückte als Verantwortliche für den Olympischen Leistungssport ins DTB-Präsidium auf.
Seitz von neuem Bundestrainer begeistert
An ihrer Stelle wurde der 45 Jahre alte Niederländer Gerben Wiersma bis Paris verpflichtet, der mit frischen Ideen bei den Sportlerinnen gut ankommt. «Es macht sehr viel Spaß auf jeden Fall. Er sagt auch immer, ihm ist es extrem wichtig, dass wir glücklich sind. Das finde ich toll. Ich freue mich auch auf die nächsten Jahre mit ihm», sagte die deutsche Rekordmeisterin Elisabeth Seitz.
Die 28-jährige Stuttgarterin gehört ebenso wie der Olympia-Zweite Lukas Dauser zu den Turnern, die sich nach Tokio zwecks geistiger und körperlicher Regeneration eine längere Auszeit genommen haben. «Ich bin mental in ein Loch gefallen», berichtete der Unterhachinger, der dennoch in Berlin seinen Mehrkampf-Titel aus dem Vorjahr verteidigte. Er habe das Tief bis in dieses Jahr hineingeschleppt. «Eigentlich dachte ich, im Januar ist der Startschuss und dann bringe ich das hinter mich. Aber das war nicht so einfach. Um Ostern rum hat es dann klick gemacht und ich war wieder Feuer und Flamme», berichtete er.
Dauser, der in Tokio seine Silbermedaille auf dem Barren stehend mit der deutschen Fahne um die Schulter gefeiert hatte, kann sich seiner Nominierung für die EM vom 11. bis 21. August so gut wie sicher sein. Die Meisterschaft in der Max-Schmeling-Halle habe zwar offiziell keine Auswirkung auf die Benennung, sagte Belenki. «Aber man sieht schon, mit welchen Turnern man rechnen muss», betonte er und bilanzierte: «Insgesamt habe ich gesehen, die Leistungen sind gut. Aber wir haben auch ein paar verturnte Übungen gesehen.»
Nguyen mit Schulterproblemen
Maximal 20 Turner wolle er für die erste Qualifikation einladen. Anschließend stehen ein Länderkampf in Magglingen in der Schweiz und ein zweiter Quali-Wettkampf an, ehe er seine fünfköpfige EM-Riege plus Ersatzturner nominiert. Ob der zweimalige Olympia-Zweite Marcel Nguyen dazu gehören wird, ist offen. Der 34-Jährige hatte angekündigt, bis Paris weiterzumachen, am Samstag aber als Qualifikationsbester wegen Schulterproblemen auf das Finale an den Ringen verzichtet. «Nach der ersten Quali werde ich drei Turner fest nominieren, die anderen zwei dann nach der zweiten. Ich wünsche dem Marcel, dass er sich in Form kriegt, dass er sich bei der ersten Quali gut anbietet», sagte Belenki.
Für seinen Frauen-Kollegen Wiersma ist die Auswahl ungleich kleiner. Neben Seitz, die in Berlin wegen Trainingsrückstandes keinen Vierkampf absolvierte und nur an zwei Geräten antrat, kommen die neue Mehrkampf-Meisterin Sarah Voss (Köln), Stufenbarren-Champion Kim Bui (Stuttgart) sowie Pauline Schäfer-Betz und Emma Malewski (beide Chemnitz) in die engere Wahl.
Zudem hat der Niederländer die Olympia-Dritte am Schwebebalken von 2016, Sophie Scheder, im Blick. Die Chemnitzerin turnte nach langwierigen Verletzungsproblemen an drei von vier Geräten. «Ich bin wirklich glücklich darüber, dass Elisabeth, Pauline, Sarah und Kim, das Olympia-Team des letzten Jahres, immer noch dabei sind. Auch Sophie ist hier. Das ist für mich wirklich gut, denn erfahrene Athleten und junge Energie sind ein Qualitätsmerkmal», sagte Wiersma.