Auftakt vor 74.000 Zuschauern: Frauen-EM als Zeitenwende?

Der Zuschauerrekord ist schon geknackt, bevor überhaupt der erste Ball rollt. Über 500.000 Tickets sind vor dem Eröffnungsspiel der 13. Frauen-Europameisterschaft zwischen England und Österreich am Mittwoch (21.00 Uhr MESZ/ARD und DAZN) verkauft.

Zum Auftakt werden im ausverkauften Old Trafford von Manchester rund 74.000 Fans erwartet. Die Gastgeber und auch Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg erwarten «ein tolles Fußballfest» – und der englische Verband FA «das größte europäische Frauen-Sport-Event der Geschichte».

Die UEFA will «so viele Rekorde wie möglich brechen», so die frühere Wolfsburgerin und Weltfußballerin Nadine Keßler, beim europäischen Dachverband für den Frauenfußball verantwortlich. Das betrifft neben der digitalen und der TV-Reichweite auch die Besucherzahl: Die Bestmarke für ein EM-Turnier liegt bei 243.400, so viele kamen insgesamt 2017 in den Niederlanden. «Wir wollen zeigen, wie weit der Frauenfußball in Europa gekommen ist, warum viele Spielerinnen heutzutage hier spielen, um eine professionelle Karriere anzustreben», sagte Keßler im Interview des Magazins «Elfen».

Teilweise in Mini-Arenen

Die 34-Jährige versprach: «Das Niveau der Euro 2022 wird sportlich und organisatorisch nicht vergleichbar sein mit den vergangenen Turnieren.» Noch aber sind nicht alle der 700.000 Tickets für die 31 Spiele der zweiten EM nach 2005 auf der Insel abgesetzt.

Und zur Wahrheit gehört bei aller Euphorie auch: Einige Spiele finden in Mini-Arenen statt – zum Beispiel im Manchester City Academy Stadium mit einer Kapazität von 7000 Fans. Als «respektlos» und «peinlich» hatte das Islands Spielführerin Sara Gunnarsdottir vom Champions-League-Sieger Olympique Lyon bezeichnet.

Die UEFA schüttet dieses Mal 16 Millionen Euro an Prämien aus, was natürlich nicht ansatzweise an die über 330 Millionen von der Männer-EM 2021 herankommt. Nach einem FA-Report werden während des Turniers in den neun Austragungsorten 54 Millionen Pfund (rund 63 Millionen Euro) umgesetzt. 250 Millionen TV-Zuschauer sollen in 195 Ländern Spiele anschauen. Organisatoren, UEFA und auch die nationalen Verbände wie der DFB erhoffen sich eine nachhaltige Wirkung für ihren immer noch nicht voll akzeptierten Sport.

Sportlich ausgeglichen

Der Reiz dieser EM, die in diesem Sommer ohne die Konkurrenz eines internationalen Männerturniers stattfindet, besteht auch in ihrer sportlichen Ausgeglichenheit: Mindestens einem halben Dutzend Teams – darunter England, Spanien, Frankreich, die Niederlande und Norwegen – wird der Titel zugetraut.

Die deutsche Auswahl, zuletzt bei der EM 2017 und bei der WM 2019 im Viertelfinale gescheitert, ist so etwas wie eine Wundertüte. «Insgesamt nehmen 16 Mannschaften teil – und ich bin sicher, acht können sich berechtigterweise Hoffnungen auf den Titel machen. In solch einer außergewöhnlichen Konkurrenz können wir uns keine großen Fehler erlauben», sagte Voss-Tecklenburg vor dem ersten Gruppenspiel des Rekord-Europameisters gegen Dänemark am Freitag (21.00 MESZ/ZDF und DAZN) in einem «FAZ»-Interview. Sie könne nur jedem Fußballfan raten: «Schaut es euch an, es lohnt sich.»

Der Traum vom Finale am 31. Juli im bereits ausverkauften Wembley-Stadion lebt bei den deutschen Spielerinnen – und ganz besonders bei den bisher titellosen Engländerinnen. Fast 20.000 Fans wollten schon das Testspiel der Gastgeberinnen sehen, als diese EM-Titelverteidiger Niederlande mit 5:1 besiegten. Zudem gilt die englische Liga als die finanzstärkste auf dem Kontinent.

England will den Titel

Die Erwartungen an das Team um die Stars Lucy Bronze und Ellen White sind groß. «Ein Erfolg wäre es für England, wenn sie ins Finale kommen und die Trophäe stemmen», sagte Ex-Nationalspielerin und BBC-Moderatorin Alex Scott. «Bei allem Aufwand und was sie sonst in den Fußball investiert haben, sollten sie das Turnier gewinnen.»

Erstmal sind alle Augen auf Old Trafford gerichtet, das einen stimmungsvollen EM-Auftakt verspricht. «Der historische Ort soll zeigen, wohin die Reise geht. Es ist schon jetzt verrückt, wie groß das Interesse geworden ist», sagte Keßler.

Die Spitzenfunktionärin betonte bei der Auftakt-Pressekonferenz in Manchester: Nun müsse man «sicherstellen, dass all diese Türen für alle Mädchen in Europa offenstehen, damit sie Fußball spielen können. Das ist ziemlich einfach, aber das ist die Grundlage für ein großes Publikum. Und da sind wir noch nicht angelangt. Es liegt noch etwas Arbeit vor uns.»

Von Ulrike John und Philip Dethlefs, dpa