Boris Becker ist fast immer in Bewegung. Wenn Deutschlands Tennis-Legende die Spiele seines neuen Schützlings Holger Rune bei den ATP-Finals verfolgt, ist er aktiver als mancher Spieler auf dem Platz.
Nahezu nach jedem Ballwechsel springt Becker auf, applaudiert, gestikuliert, gibt Anweisungen. Seit rund drei Wochen ist Becker nun als sogenannter Super-Coach des dänischen Jungstars zurück auf der Tennis-Tour – und dabei voll in seinem Element.
«Sehe ihn als Rohdiamant»
«Ich sehe ihn als Rohdiamant, der geschliffen werden muss», sagte Becker im Eurosport-Podcast «Das Gelbe vom Ball» über Rune, der aktuell als einer der spannendsten Profis auf der Tour gilt. Rune, der in Turin bislang groß aufspielende Italiener Jannik Sinner und Wimbledonchampion Carlos Alcaraz aus Spanien – das sind die drei Spieler, denen die Zukunft im Männer-Tennis gehören kann.
Rune bringt trotz seiner erst 20 Jahre spielerisch praktisch alles mit, um ein ganz Großer zu werden und Grand-Slam-Turniere zu gewinnen. Nur seine Emotionen hat der Däne oftmals auf dem Platz nicht im Griff. Bei den French Open in Paris schickte er im vergangenen Jahr schon einmal seine Mutter Aneke von der Tribüne. Immer wieder legt er sich auch mit seinen Gegnern oder Zuschauern an.
Gefallen an emotionalen Ausbrüchen
Für Becker kein Problem. Ganz im Gegenteil. «Mir gefallen diese emotionalen Ausbrüche auf dem Platz», sagte der dreimalige Wimbledonsieger, früher selbst impulsiv auf dem Platz. «Novak Djokovic war genauso, der war ab und zu auch nicht ganz bei sich», sagte Becker, der den Weltranglisten-Ersten aus Serbien drei Jahre lang sehr erfolgreich trainierte und noch heute einen sehr guten Draht zum Rekordsieger von Grand-Slam-Turnieren pflegt. «Es ist schön, dass Boris wieder da ist», sagte Djokovic, der Rune in seinem Auftaktspiel bei den ATP-Finals in drei Sätzen niederrang.
Für Becker ist die Rückkehr als Tennis-Coach auch eine Rückkehr in ein normales Leben. Vor rund einem Jahr wurde er unter großem Trubel aus einem britischen Gefängnis entlassen, wo er wegen Insolvenzvergehen einsaß. Seitdem fungierte der 55-Jährige bereits wieder als TV-Experte und war auch so stets auf der Tennis-Tour präsent. In Wimbledon und New York war er wegen Einreiseproblemen allerdings nicht dabei.
Anfrage im Oktober
Im Oktober kam dann die Anfrage des seit Wimbledon strauchelnden Rune, ob Becker sich ein Engagement als Coach vorstellen könne. Nach einer gemeinsamen Trainingswoche in Monte-Carlo vereinbarte das Duo eine Zusammenarbeit vorerst bis zum Jahresende. «Am Ende des Tages liebe ich den Tennissport. Und wenn mich dann einer der besten 20-Jährigen der Welt fragt, ob ich mal Lust habe, also wer da nein sagt, der hat mit dem Sport nichts zu tun», begründete Becker seine Zusage für das spannende Projekt.
Und die Zusammenarbeit scheint sich bereits auszuzahlen. Seit Wimbledon hatte Rune nur noch ein Spiel gewonnen, die ihn auszeichnende Leichtigkeit und das Selbstvertrauen waren komplett abhandengekommen. Seit Becker an seiner Seite ist, erreichte der Däne in Basel das Halbfinale und hatte Djokovic beim Masters-1000-Event in Paris im Viertelfinale in einem packenden Dreisatz-Match am Rande einer Niederlage.
«Es ist großartig, Boris in meiner Box zu haben», sagte Rune in Turin, wo es für ihn an diesem Donnerstag (21.00 Uhr/Sky) gegen Sinner um den Einzug ins Halbfinale geht. «Er war oft selbst in solchen Situationen auf dem Platz und kann mir viele wertvolle Tipps geben», sagte Rune über Becker, der bei den Trainingseinheiten zum Teil selbst noch die Bälle ins Spiel bringt.
Und wie findet es der Däne, dass Becker immer wieder aufspringt? «Vielleicht liegt es an der Durchblutung der Beine», sagte Rune, um dann ernsthaft hinzuzufügen. «Ich denke, wenn er coachen will, steht er auf. So kann er seine Art, mich zu coachen, besser rüberbringen.»
Nach den ATP-Finals in Turin wollen sich Rune und Becker zusammensetzen und schauen, ob die Zusammenarbeit im kommenden Jahr weitergeht. Aktuell spricht viel dafür, dass Becker den «Rohdiamanten» Rune weiter schleifen wird. «Wenn man gewinnt, bleibt man in der Regel zusammen», sagte Becker.