Bundestrainer Gislason vor WM: «Dürfen nicht träumen»

Die bisherige Amtszeit als Handball-Bundestrainer war für Alfred Gislason stark von der Corona-Pandemie geprägt. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht der 63 Jahre alte Isländer über seine Hoffnungen und Erwartungen für die Weltmeisterschaft vom 11. bis 29. Januar in Polen und Schweden.

Am 2. Januar starten Sie mit Ihren 18 Auserwählten in die WM-Vorbereitung. Worauf werden Sie im Trainingslager ein besonderes Augenmerk legen, was sind die größten Baustellen?

Alfred Gislason: Wir werden die Arbeiten fortsetzen, die wir im vergangenen Jahr begonnen haben. In erster Linie geht es um den Feinschliff im Angriff und in der Abwehr. Es hilft natürlich, dass wir keine ganz neuen Leute dabei haben. Alle kennen sich mittlerweile etwas besser. Um Missverständnisse zu minimieren, werden wir versuchen, jeden Tag ein kleines Stück vorwärts und auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, was verschiedene Taktiken angeht. Wir haben nicht viel Zeit, aber die wollen wir effektiv nutzen.

Auf der Arbeit aus dem Vorjahr aufbauen

Inwieweit hilft es, dass sich innerhalb der Mannschaft ein Kern gebildet hat und somit ein gewisses Grundverständnis von den Abläufen vorhanden ist?

Gislason: Es ist ganz entscheidend, dass wir viele Spieler dabei haben, die schon beim letzten Länderspiel-Lehrgang im Oktober und bei der EM 2022 dabei waren. So können wir auf der Arbeit aus dem Vorjahr aufbauen.

Die chaotische EM 2022 mit 18 positiven Corona-Fällen im Team hat alle Beteiligten vor bis dahin nicht gekannte Herausforderungen gestellt. Wie groß ist die Hoffnung auf ein normales Turnier?

Gislason: Sehr groß. Ich glaube, dass Corona mittlerweile wie eine Grippe gesehen wird. Die große Aufregung hat sich gelegt. Wir gehen zur Normalität über.

Die EM hat die Mannschaft eng zusammengeschweißt. Was ist vom Geist von Bratislava übrig geblieben?

Gislason: Wir haben damals gesehen, wie groß die Bereitschaft ist, sich gegenseitig zu unterstützen. Ich denke, das ist zum großen Teil geblieben. Wir haben eine sehr gute Stimmung in der Mannschaft, die auch unbedingt eine Mannschaft sein will. Alle wissen, dass es nur so gehen kann. Wir haben eine charakterlich sehr gute Mannschaft.

Einige Teams vor der DHB-Auswahl

Und wie sieht es sportlich aus?

Gislason: Das ist vor einem Turnier immer schwer zu bewerten. Ich glaube, es gibt schon einige Teams, die vor uns stehen. Da sind die Dänen zu nennen, die Schweden, die Franzosen, Spanier, Norweger, Isländer. Dahinter kommen wir und viele andere.

Worauf wird es bei der Endrunde in erster Linie ankommen, um erfolgreich zu sein?

Gislason: Zunächst wäre es wichtig, dass wir vom Verletzungspech verschont und alle gesund bleiben. Gerade in der Abwehr haben wir keine so große Auswahl. Dann müssen wir gut ins Turnier hineinkommen. Eine wichtige Rolle spielen auch die Torhüter. Ich denke, wir haben uns in den vergangenen Monaten im Angriff gut entwickelt. Wir machen weniger Fehler und spielen besser zusammen. Entscheidend wird sein: Wie bekommen wir es in der Abwehr hin?

Flexible Spieler

Im Team stehen fast ausschließlich Spieler, die sowohl im Angriff als auch in der Abwehr spielen können. Wie glücklich sind Sie über diese Entwicklung, die Sie schon zu Ihrem Amtsantritt vor knapp drei Jahren eingefordert hatten?

Gislason: Das freut mich sehr. Ich habe einigen Spielern immer wieder gesagt, dass sie sich in ihren Vereinen auch in der Abwehr durchsetzen müssen. Für mich ist es schön zu sehen, dass sie diese Aufgabe angegangen sind und sich als wichtige Abwehrspieler etabliert haben.

Wie lautete das WM-Ziel?

Gislason: Ich hoffe, dass wir Ende Januar sagen können, wir haben ein richtig gutes Turnier gespielt und dass wir unabhängig von der Platzierung stolz auf unsere Leistung sein können.

In der Vorrunde heißen die Gegner Katar, Serbien und Algerien. Ist Deutschland in dieser Gruppe der Favorit?

Gislason: Das glaube ich schon. Unser Ziel ist es, die Gruppe zu gewinnen. Aber auch Katar und Serbien werden damit liebäugeln. Es ist wichtig, so viele Punkte wie möglich in die Hauptrunde mitzunehmen, denn wir wollen die K.o.-Phase erreichen. Wenn man in der Vorrunde patzt, kann man das kaum noch wettmachen. Deshalb ist die Gruppenphase erst einmal das wichtigste Ziel.

Keine Träume, sondern Realismus

Die DHB-Auswahl wartet seit Olympia-Bronze 2016 auf eine Medaille bei Großereignissen. Können Sie den Fans Hoffnung machen, dass die Durststrecke endet?

Gislason: Erhoffen kann man immer etwas im Sport. Es wäre schön, wenn wir den Fans eine Medaille schenken könnten. Wir sind aber nicht in der Position, das als Ziel auszugeben, denn wir gehören nicht zu den Favoriten. Wir dürfen nicht träumen, sondern müssen realistisch bleiben und uns auf die Vorrundenspiele konzentrieren.

2024 findet die EM in Deutschland statt. Ein gutes Abschneiden bei der WM wäre dafür sicher die perfekte Werbung, oder?

Gislason: Ohne Frage. Deshalb sehen wir die WM auch nicht als Vorbereitungsturnier für die EM an. Wir wollen jetzt schon überzeugend auftreten und eine gute Platzierung erreichen. Danach können wir anfangen, über die Heim-EM nachzudenken. Jedes Spiel ist wichtig für uns. Je besser wir die Schritte bewältigen, umso schneller werden wir vorankommen.

In den vergangenen Jahren wurde im Zuge etlicher Absagen teilweise heftig über die Einstellung der Spieler zur Nationalmannschaft debattiert. Dieses Mal hat nur Fabian Wiede verzichtet, weil er sich einer Kieferoperation unterziehen will. Werten Sie das als Beginn eines Mentalitätswandels in Bezug auf die Nationalmannschaft?

Gislason: Einige Spieler musste ich informieren, dass sie nicht nominiert werden. Da war große Enttäuschung spürbar, aber die spiegelt wider, was ich bei den Gesprächen im Zuge der WM-Nominierung gemerkt habe. Alle brennen darauf, für Deutschland aufzulaufen. Das ist schön.

Wie viel Spaß macht Ihnen der Job gerade, nachdem die ersten zwei Jahre im Amt wegen der Corona-Pandemie alles andere als normal verlaufen sind?

Gislason: Sehr viel Spaß. Ich freue mich richtig auf die Arbeit mit der Mannschaft im Jahr 2023 und zunächst auf ein Turnier, wo wieder alles auf dem Spielfeld entschieden wird.

Zur Person: Alfred Gislason (63) absolvierte 190 Länderspiele für Island und spielte in der Bundesliga von 1983 bis 1988 für TUSEM Essen. 1991 begann er seine Trainerlaufbahn, die ihn 1997 erneut nach Deutschland führte. Nach Stationen in Hameln, Magdeburg und Gummersbach betreute er elf Jahre lang mit großem Erfolg den THW Kiel. Seit Anfang Februar 2020 ist er Bundestrainer.

Eric Dobias, dpa