DFB-Doku in schwierigen Tagen: Beim Scheitern zusehen

Wütend und geladen verschwindet Hansi Flick in der Kabine des Chalifa-Stadions. Wäre dem Bundestrainer die Tür nicht aufgehalten worden, er hätte sie zugeschlagen.

«Fuck off», flucht Flick – und jeder, der möchte, kann sich das in der an diesem Freitag erscheinenden Dokumentation über die verhängnisvollen WM-Tage der deutschen Fußball-Nationalmannschaft in Katar wieder und wieder anschauen. Die DFB-Auswahl, die sich in Wolfsburg auf den Test am Samstag ausgerechnet gegen WM-Schreck Japan vorbereitet, sollte erst einmal wegsehen.

Der 1:2-Schock im ersten Gruppenspiel gegen die Japaner vor gut neun Monaten mit den Begleitumständen der lähmenden «One Love»-Debatte bekommt von Filmemacher Christian Twente in dem «All or Nothing»-Format der Amazon Studios viel Raum. «Er saß so tief, dass man am nächsten Tag im Camp auch noch merken konnte, dass das nicht so einfach zu verdauen war», sagte der Regisseur der Prime-Video-Serie der Deutschen Presse-Agentur. Den fluchenden Flick erwarten in der Kabine ins Leere starrenden Nationalspieler.

«Trotz der sportlichen Enttäuschung haben wir die Begleitung durch Prime Video nicht bereut», teilte der Deutsche Fußball-Bund auf dpa-Anfrage mit. Beim Dreh, im Schnitt und insbesondere bei der Wahl des Erscheinungsdatums hatte der Verband kein über enge vertragliche Grenzen hinaus geltendes Vetorecht. Die Veröffentlichung der vier Folgen (geplant waren ursprünglich sechs) einen Tag vor dem Wiedersehen mit Japan wird beim weiterhin unter großem Erfolgsdruck stehenden Flick kaum auf große Begeisterung stoßen.

Thomas Müller im Pool und eine Pokerrunde

Die Fans der DFB-Auswahl und die, die es nicht mehr sein wollen, bekommen in den etwa 40-minütigen Episoden etliche neue Einblicke. Zwei Kameramänner waren im abgeschiedenen Teamhotel, bei Mannschaftsbesprechungen und in der Kabine dabei. «Es gibt keinen Moment in dem Material, in dem es so wirkt, als würden die Spieler oder Trainer extra etwas für die Kamera machen oder sich von der Kamera wegdrehen, um zu verhindern, dass man bestimmte Dinge mitbekommt», sagte Twente. 

Thomas Müller im Pool und eine Pokerrunde um den mit einem «Nacktmull» verglichenen Joshua Kimmich sind amüsant. Kimmich hatte gefragt, wie er ohne Bart aussehen würde. Die Motivationsrede von Niclas Füllkrug vor dem zweiten Spiel gegen Spanien (1:1) war für Filmemacher Twente «ein Gänsehaut-Moment» und erinnert in Grundzügen an Jürgen Klinsmanns «Capitano»-Ansprache in Sönke Wortmanns «Deutschland. Ein Sommermärchen» über die Heim-WM 2006. Viele andere Szenen bestätigen aber die Sorgen um die seit Jahren in tiefster Krise spielende DFB-Auswahl.

Von Einheit keine Spur

Ersatzkapitän Kimmich ist in den ersten drei Folgen gleich in zwei Konflikte verwickelt, jeweils mit den Abwehrhünen Antonio Rüdiger und Niklas Süle. Die Mannschaftssitzungen im Hotel wirken ob der Atmosphäre eher wie aus einem Klassenraum gefilmt. In einer der Besprechungen wünscht sich Flick mehr Leidenschaft – bekommt sie aber weder zu hören noch zu sehen. Von Einheit zwischen Bundestrainer und Team keine Spur. Flicks Wutreden nach der Enttäuschung gegen Japan und in der Halbzeitpause der dritten Partie gegen Costa Rica (4:2) sind emotionaler als das, was von den Spielern zu sehen ist.

«Für mich kommt auch Trainer Hansi Flick immer authentisch rüber und wirkt niemals in irgendeiner Form so, als würde er schauspielern», sagte Twente. «Er ist ein sehr ehrlicher Mensch und insofern sind eben auch schwierige Momente oder im Nachhinein geführte Interviews, die erst nach dem katastrophalen Ausscheiden geführt worden sind, immer offen und authentisch.»

Besonders brisante neue Hintergründe über das WM-Scheitern sind in den ersten drei Folgen nicht zu sehen. Die Ausführungen von dem nach der WM geschassten DFB-Direktor Oliver Bierhoff zur Debatte um die bunte, vom Weltverband FIFA verbotene «One Love»-Kapitänsbinde sind nicht neu. Hier dreht sich die Nationalmannschaft um sich selbst, Flick bemängelt vor seinem Team, er habe schlecht geschlafen, weil es in Deutschland keine Unterstützung gebe. In der entscheidenden Mannschaftssitzung, in der die dann ersatzweise erdachte Mund-Zu-Geste vor dem Japanspiel erdacht wurde, sind die Kameras nicht dabei.

In erster Linie Unterhaltung

Das «All or Nothing»-Format, mit dem Amazon Studios bereits etliche andere Sportteams begleitet hat, soll in erster Linie unterhalten. «Nach dem Schock im ersten Spiel kam so etwas wie Zuversicht auf», sagte Twente. «Solche Auf- und Abbewegungen sind natürlich für einen Filmemacher nahezu perfekt, weil sie das Drama ausmachen, das man gerne erzählen möchte.» Auch wenn er sich einen besseren sportlichen Ausgang gewünscht hätte.

Einige Szenen lassen erahnen, für welchen Verlauf der Geschichte sie gedreht wurden. Der in der Dämmerung von Al-Shamal nach seiner Knieverletzung für das Spanien-Spiel wieder trainierende Leroy Sané hätte im Verlauf der WM auch zum Helden werden können. «Wir versuchen jetzt alles mit unseren vorhandenen Mitteln, um ihn wieder fit zu bekommen», sagt Teamarzt Jochen Hahne in die Kamera. Sané wurde nicht zum Helden.

In dieser Woche vor den Spielen gegen Japan und drei Tage später gegen Vize-Weltmeister Frankreich zählt der 27-Jährige vom FC Bayern wegen seiner guten Form zu Saisonbeginn schon wieder zu den Hoffnungsträgern. Eine Rolle, der er selten gerecht wurde. Andere prominente Spieler aus den Katar-Tagen fehlen – insbesondere Leon Goretzka, der für Flick derzeit nicht gut genug ist, bei der WM aber zu den glaubwürdigsten Stimmen bei den vielen gesellschaftspolitischen Themen rund um die Mannschaft gehört hatte.

Jan Mies und Klaus Bergmann, dpa