Die besonderen Momente der Simone Biles

Simone Biles hatte die große Bühne ganz für sich allein. Alle Teams hatten ihre Vorträge an allen Geräten bereits beendet, als der Superstar des Frauen-Turnens seine Boden-Übung begann.

Im gleißenden Licht der Scheinwerfer im Sportpaleis waren alle Augen nur auf sie gerichtet, sowohl die der Zuschauer auf den Rängen als auch der Sportlerinnen im Innenraum. Und die 26-Jährige lieferte wie selbstverständlich einen weiteren Beweis ihrer Extraklasse: 15,166 Punkte waren die höchste Wertung aller bei den Weltmeisterschaften in Antwerpen gezeigten Darbietungen. Damit sicherte die Texanerin dem US-Team den siebten Titel im Mannschafts-Mehrkampf in Serie seit 2011.

Für Biles war es in vielerlei Hinsicht ein besonderer Moment. Auf den Tag zehn Jahre nach ihrem ersten Titel bei ihrem WM-Debüt an gleicher Stelle gewann sie nun ihr 20. WM-Gold – als hätte ein Drehbuch-Autor sich das ausgedacht. Überdies stieg die viermalige Olympiasiegerin mit 33 Medaillen bei WM und Olympischen Spielen zur erfolgreichsten Turnerin der Geschichte auf. Bislang lag Biles gleichauf mit Larissa Latynina aus der ehemaligen Sowjetunion.

Biles: «Stolz auf die Mannschaft»

«Es war nicht der beste Tag des US-Teams. Wir haben es trotzdem geschafft. Deswegen bin ich wirklich, wirklich stolz auf die Mannschaft», sagte Biles anschließend in ihrem ersten Statement seit WM-Beginn. «Jedes Mal, wenn man zum Weltmeister gekrönt wird, fühlt es sich ein bisschen anders an. Ich bin immer noch überrascht, dass ich noch dabei bin, ich bin 26, ich bin ein bisschen älter. Es ist anders, aber es ist aufregend.»

20 WM-Titel in zehn Jahren – mathematisch gesehen zwei pro Jahr. Doch Biles‘ Leben ist keine Gleichung. Denn die beiden vorangegangenen Weltmeisterschaften hat die seit April mit dem Football-Profi Jonathan Owens verheiratete Ausnahme-Turnerin zwangsweise verpasst. Die Olympischen Spiele in Tokio 2021 brachten einen Wendepunkt in die bis dahin von ununterbrochenen Erfolgen geprägte Karriere.

Biles war in Tokio beim Sprung aus dem Finale im Mannschafts-Mehrkampf ausgestiegen. Wegen einer Orientierungsstörung, Twisties genannt, konnte sie bestimmte Elemente nicht mehr ausführen. «Ich muss mich auf meine psychische Gesundheit konzentrieren. Wir müssen Körper und Geist schützen. Es nervt einfach, wenn man mit seinem eigenen Kopf kämpft», hatte sie anschließend erklärt und von einem «Kampf gegen Dämonen» gesprochen.

Dieser gesundheitliche Knick in ihrer Laufbahn hatte viele Fragen in ihr ausgelöst. Die mentalen Probleme hatten sie vollkommen unvorbereitet getroffen. «Wo sind die Kabel unterbrochen? Das war schwer. Ich habe mein Leben lang trainiert, ich war körperlich bereit, es ging mir gut. Und dann ist das passiert, was ich nicht kontrollieren kann», bekannte sie damals.

Später schloss sie einen Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal um den früheren Teamarzt Larry Nassar nicht aus. «Du weißt es nicht einmal, aber ich denke, es könnte sein», sagte sie «USA Today». Biles hatte im Januar 2018 öffentlich gemacht, dass sie eine der Frauen ist, die sexuell missbraucht worden sind. Nassar war in insgesamt drei Prozessen für seine kriminellen Übergriffe auch gegen Minderjährige zu Gefängnisstrafen von bis zu 175 Jahren verurteilt worden. 

In Antwerpen nun turnt Biles erstmals seit 2019 wieder bei einer WM. Sie wirkt gereifter, erwachsener, weniger flippig. Sie sei keine 16 mehr, sondern 26, erklärte Biles. Sie denke etwas mehr über ihr Turnen nach, es sei nicht mehr alles sorgenfrei. 

Brillante Biles

Sportlich hat sie in der Diamanten-Stadt brilliert: Sie zeigte erstmals international einen Jurtschenko mit anschließendem Doppelsalto rückwärts gebückt mit einer Schwierigkeit von 6,4 Punkten – den schwersten Sprung des Frauen-Turnens. Der «Biles II» ist ihr insgesamt fünftes Element, das vom Weltverband Fig in die Wertungsrichtlinien aufgenommen wurde.

Es stecke keine Magie hinter ihren Erfolgen, sagte Cecile Landi, die Biles gemeinsam mit ihrem Mann Laurent trainiert. «Ich weiß, dass sie hochbegabt ist. Aber sie ist eine der härtesten Arbeiterinnen, die ich je gesehen habe.» Biles gebe sich nicht mit Mittelmäßigkeit zufrieden. Wie lange sich die viermalige Olympiasiegerin diese Trainingsqualen noch antun will, ist offen. «An der Spitze zu stehen und sich tagein, tagaus anzutreiben, ist schwerer, weil ich älter bin, mein Körper müde ist. Jeder denke: Oh mein Gott, sie sieht toll aus. Und ich denke: Manchmal fühle ich mich, als könnte ich sterben», gab sie zu.

In Antwerpen steht ihr nach zwei Mehrkämpfen noch ein kräftezehrendes Programm bevor. An diesem Freitag ist sie die Top-Favoritin auf Gold im Einzel-Vierkampf, danach folgen noch die vier Finals im Sprung und am Stufenbarren (Samstag) sowie am Schwebebalken und am Boden (Sonntag). «Schauen wir mal, wie der Rest der Weltmeisterschaften verläuft», sagte Biles und verschwand gemeinsam mit ihren Teamkolleginnen aus der Halle.

Martin Kloth, dpa