Auf der einen Seite herrscht Vorfreude auf die Europameisterschaft: Endlich wieder Fußball mit Fans im Stadion.
Offene Biergärten wegen weit weniger Corona-Fällen als noch vor kurzem, die Impfquote wächst, das Wetter ist warm, Millionen gewöhnen sich langsam wieder daran, draußen unter Leuten zu sein. Nach einer gefühlten Ewigkeit ist wieder etwas mehr Leben möglich. Das Turnier könnte vielen als Frustlöser dienen.
Doch auf der anderen Seite gibt es auch Skepsis und nicht nur bei Leuten, die dem Fußball ohnehin kritisch gegenüberstehen: In einer Pandemie sollen Fußball-Stars durch ganz Europa reisen? Haben die Spitzensportler und ihre Funktionäre zu viele Privilegien? Hat es sich der Profifußball verscherzt und einen Fußball-Kater ausgelöst?
EM als Probelauf für den Profisport
In elf Städten wird dieses Mal bei der EM gekickt – von Glasgow bis Rom, von Sevilla bis Baku. Halbfinals und Finale sollen in London gespielt werden. Mannschaften, die weit kommen, werden in mehrere Länder reisen. Und schon jetzt gibt es in einigen Teams Coronafälle.
Auch in München wird gespielt, rund 14.000 Zuschauer sollen ins Stadion dürfen. Eine Veranstaltung in einer Größenordnung, die man pandemiebedingt und aus Sorge vor Superspreader-Events lange nicht gesehen hat. Natürlich gibt es im Stadion ein Hygienekonzept. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) spricht von der Fußball-EM als «Sondersituation» und den Partien in der Landeshauptstadt als «Pilot- und Probelauf» für den weiteren Profisport in Deutschland.
Kritische Stimmen
Andere sind kritischer. Die Virologin Melanie Brinkmann etwa sagte der «Rheinischen Post» angesprochen auf Fußballspiele mit Fans im Stadion: «Haben wir keine anderen Sorgen?» Sie finde es deutlich wichtiger, dass Kinder wieder in die Schule und zum Sport gehen können, Menschen ihre Jobs nicht verlieren und man bei sozialen Benachteiligungen und Bildungslücken gegensteuert. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ist skeptisch: «Das mit der EM halte ich schon für höchst gewagt.»
Deutschland scheint gespalten. Die Nationalelf ist spätestens seit ihrem frühen Aus bei der WM vor drei Jahren nicht mehr so sakrosankt wie noch beim WM-Sieg 2014. Auch wenn Bundestrainer Joachim Löw nach langem Hin und Her nun doch zwei damalige Helden aus Brasilien, Thomas Müller und Mats Hummels, reaktiviert hat. Das «Sommermärchen» der WM im eigenen Land ist mit 15 Jahren auch schon recht lange her.
Wenig EM-Stimmung
Dass bei vielen eine gewisse Nationalteam-Müdigkeit zu herrschen scheint, hat nicht nur sportliche Gründe. Zu abgehoben wirke die Mannschaft, zu viel Marketing-Gehabe gebe es, so ein Eindruck. Die Einschaltquoten bei den Spielen waren jedenfalls schon mal besser.
Über der Republik liegt im Sommer 2021 irgendwie ein Mehltau – bei vielen herrscht Corona-Müdigkeit und auch ein bisschen Abschiedsstimmung. Joachim Löw hört nach 15 Jahren bald auf und auch die Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel endet nach 16 Jahren. Das Lebensgefühl ist wohl mit Übergangszeit gut beschrieben.
Fanmeilen und überschwängliches Schwarz-Rot-Gold-Schwingen scheinen passé. Ketten, Flaggen oder Schminkstifte in den deutschen Farben würden die meisten Erwachsenen in Deutschland nicht mehr kaufen, wie jüngst eine Yougov-Umfrage ergab. Etwa 73 Prozent gaben ein klares «Nein» an, nur drei Prozent ein klares «Ja». Dass überhaupt EM ist und auch noch mit Spielen in Deutschland: Für viele kam das in den letzten Wochen eher überraschend.
Die Gastronomie frohlockt
Die bayerische Polizei bekommt zu den vier in München ausgetragenen Spielen Unterstützung aus anderen Bundesländern. Sorge haben manche Bürger und Bürgerinnen davor, dass rund um die Spiele randaliert werden könnte. In München und anderen Städten gab es in den letzten Wochen immer wieder Vorfälle mit zu heftig Feiernden. In einigen Fällen flogen sogar Flaschen Richtung Polizei. Dass sich dies mit der Fußball-EM verstärkt, glaubt die Münchner Polizei erstmal nicht.
Frohlockt wird dagegen verständlicherweise in der Gastronomie. Axel Hüpkes, Präsident des Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) in Sachsen, rechnet etwa damit, dass gerade in Gebieten mit niedriger Inzidenz Gastronomen die Spiele in ihren Außenbereichen übertragen. «Die Leute lechzen danach, mal wieder mit einem Bier draußen auf der Terrasse zu sitzen und den Sonnenschein zu genießen.» Wenn dann auch noch Fußball läuft, umso besser. Es besteht kaum ein Zweifel, dass vielen die Ablenkung, ein Stück mehr Normalität, sehr gut tun könnte.
Und wer weiß: Wenn das deutsche Team sich in seiner Gruppe mit Weltmeister Frankreich und Europameister Portugal stark präsentiert, wenn sich junge Spieler wie Kai Havertz in die Herzen der Fans schießen, wenn die Sonne scheint und das Bier fließt, wenn die Corona-Lage sich auch mit vielen Lockerungen weiter beruhigt, dann kann das vielleicht doch ein euphorischer Fußball-Monat werden. Sommermärchen 2021?