EM-Alarm für Nagelsmann: Nächste Pleite und Sané-Rot

Beim bitteren Gang in die Kabine schallten dem völlig frustrierten Bundestrainer Julian Nagelsmann und seinen schwer geschlagenen Spielern die österreichischen Jubelarien wie «Oh, wie ist das schön» noch hinterher. Nach dem nächsten Tiefschlag droht dem DFB-Team bei der EM das nächste Turnierdebakel: Nagelsmann und die deutsche Nationalmannschaft haben sich mit einer alarmierenden Frust-Vorstellung in die lange Länderspielpause verabschiedet.

Sieben Monate vor dem Auftaktspiel verlor die DFB-Auswahl in Wien mit 0:2 (0:1) gegen Österreich und schleppt eine riesige Hypothek mit ins Turnier-Jahr. Bayern-Star Leroy Sané schlug Gegenspieler Phillipp Mwene vom FSV Mainz 05 zu Beginn der zweiten Halbzeit ins Gesicht und verpasst rotgesperrt möglicherweise die gesamte EM-Vorbereitung.

Entsprechend frustriert war Nagelsmann nach seiner zweiten Niederlage im vierten Spiel. Man müsse akzeptieren, dass es «unfassbar viel Arbeit gibt», so Nagelsmann im ZDF. «Es gibt Dinge, wo wir ansetzen müssen. Es geht nur über extrem harte Arbeit und auch über deutsche Tugenden, das ist Fakt. Wir können nicht in Schönheit sterben. Wir werden auch im Sommer keine Verteidigungsmonster werden.»

Der junge Coach sieht auch ein Kopfproblem bei seinen Spielern: «Die Mannschaft ist nicht befreit. Wir sind nicht diese Einheit, die wir außerhalb auf dem Platz sind. Wir strotzen nicht vor Selbstvertrauen, das ist einfach Fakt. Das liegt auf der Hand, wenn man die letzten Jahre sieht.»

So war es auch gegen Österreich. Dortmund-Profi Marcel Sabitzer (29.) erzielte vor 46.000 Zuschauern die Führung. RB Leipzigs Christoph Baumgartner (73.) entschied die Partie. Nach Sanés Ausraster (49.) versuchte es Nagelsmann mit mehreren Wechseln, keiner half. Zwei Herbst-Niederlagen zum Jahresabschluss gab es vor einer EM oder WM noch nie – die Chance zur Wiedergutmachung hat die DFB-Auswahl frühestens im März.

Gündogan: «Schlechter kann es gerade nicht sein»

«So wirst du nicht erfolgreich», räumte Kapitän Ilkay Gündogan im ZDF ein. «Schlechter kann es gerade nicht sein. Vielleicht ist es der einzige positive Aspekt. (…) Es ist bitter, dass wir jetzt drei, vier Monate mit den negativen Ergebnissen leben müssen. Jeder Einzelne muss sich klar werden, was er machen kann, um optimal Leistung zu bringen.» Alles auf dem Platz habe seine Gründe, sagte Gündogan, der viel Kritik erwartet: «Deutschland ist ein Debattenland. Das tut nach der Partie wahrscheinlich auch gut.»

Dortmund-Profi Marcel Sabitzer (29.) erzielte vor 46.000 Zuschauern die Führung. RB Leipzigs Christoph Baumgartner (73.) entschied die Partie. Nach Sanés Ausraster (49.) versuchte es Nagelsmann mit mehreren Wechseln, keiner half. Zwei Herbst-Niederlagen zum Jahresabschluss gab es vor einer EM oder WM noch nie – die Chance zur Wiedergutmachung hat die DFB-Auswahl frühestens im März.

Drei Tage nach dem 2:3 gegen die Türkei verstärkte Nagelsmann für das Trainer-Duell mit seinem einstigen Förderer Ralf Rangnick zwar die gescholtene Defensive mit Leon Goretzka als Absicherung und drei echten Innenverteidigern. Die DFB-Auswahl blieb aber enorm anfällig gegen motivierte Gastgeber.

DFB-Elf mit vielen schnellen Ballverlusten

«Wir haben schon ein bisschen Ergebnisdruck. Wir haben auch einen Art-und-Weise-Druck», sagte Nagelsmann beim ZDF. Was der mit einer dunklen Winterjacke ausgestattete Coach an der Seitenlinie dann zu sehen bekam, dürfte ihm kaum gefallen haben. Mit schnellen Ballverlusten im Aufbauspiel brachte sich die DFB-Elf immer wieder selbst in die Bredouille.

Dabei sollte mit der Hereinnahme von Routinier Mats Hummels als weiterem Innenverteidiger neben Antonio Rüdiger und Jonathan Tah mehr Stabilität ins deutsche Spiel kommen. Doch das Gegenteil war der Fall, wacklig und anfällig war die Defensive. Bereits nach 90 Sekunden setzte der Leipziger Baumgartner einen ersten Warnschuss auf das erneut von Kevin Trapp gehütete deutsche Tor ab. Eine erste Chance, die ausgerechnet über die linke Seite von Kai Havertz entstand, dessen Rolle im Türkei-Spiel noch so kritisch gesehen wurde, den in dieser Situation aber keine Schuld traf.

Kaum Impulse aus dem Mittelfeld

Havertz besaß als Schienenspieler auf der linken Seite wieder alle Freiheiten und sorgte für einige Impulse, wenngleich das deutsche Spiel in den ersten 45 Minuten offensiv erschreckend harmlos blieb. Dafür kam aus dem Mittelfeld, wo Leon Goretzka anstelle von Joshua Kimmich neben Kapitän Ilkay Gündogan agierte, viel zu wenig.

Anders dagegen die Österreicher: Mit langen Bällen stellten sie den EM-Gastgeber immer wieder vor Probleme, wie bei zwei Chancen des Freiburgers Michael Gregoritsch (12. und 17.). Das konnte nicht lange gut gehen. Wieder überbrückten die Österreicher schnell die eigene Hälfte. Sabitzer wurde dabei von Tah nicht konsequent attackiert, sodass der Dortmunder mit einem strammen Schuss links unten einschießen konnte. Rangnick, der Österreich souverän zur EM-Teilnahme geführt hatte und im Spiel gegen sein Heimatland auf acht Bundesliga-Akteure in der Startelf setzte, ballte die Faust.

Wieder einmal stand damit auf deutscher Seite hinten nicht die Null, was nun zum zehnten Mal in Serie seit dem 2:0 gegen Peru im März nicht gelang. Auf eine Reaktion seines Teams wartete Nagelsmann im ersten Durchgang auch vergebens, der hilflos wirkende Distanzschuss von Serge Gnabry war da schon fast stellvertretend (40.). Entsprechend sauer stapfte Nagelsmann zur Pause schnellen Schrittes in die Kabine. «Das ist ernüchternder Fußball. (…) Da passt nicht viel zusammen», kritisierte ZDF-Experte und Ex-Weltmeister Per Mertesacker zur Pause.

Sané lässt sich zu übler Tätlichkeit hinreißen

Richten sollte es nun Thomas Müller, der für Niclas Füllkrug zur zweiten Halbzeit kam. Die erhoffte Signalwirkung wurde aber sofort von einer dummen Aktion Sanés konterkariert. Der in dieser Saison so überragende Münchner ließ sich nach einem hitzigen Duell mit Mwene zu der üblen Tätlichkeit hinreißen, als er dem Mainzer die Hand ins Gesicht drückte und ihn zu Boden stieß. Die Rote Karte war nur folgerichtig, auch danach musste Sané unter Mithilfe von Österreichs Routinier Marko Arnautovic noch gebändigt werden. Für Sané war es der erste Platzverweis seiner Profikarriere.

Nagelsmann kehrte daraufhin mit der Einwechslung von Benjamin Henrichs zur Viererkette zurück, kurz darauf kamen auch Florian Wirtz, Kimmich und Robert Andrich ins Spiel. Deutschland musste nun ins Risiko gehen und war entsprechend offen für Konter wie beim Schuss von Gregoritsch (64.). Wie leicht die deutsche Auswahl auszuhebeln war, wurde dann beim zweiten Gegentor deutlich, als Gregoritsch mit einem direkten Ball Baumgartner bediente, der Trapp keine Chance ließ. Im Ernst-Happel-Stadion hätte die deutsche Mannschaft in der Schlussphase noch deutlich höher verlieren können.

Jan Mies, Arne Richter und Stefan Tabeling, dpa