Nach einem der größten Dramen der europäischen Fußball-Geschichte beschrieb Trainer Kasper Hjulmand die Atmosphäre in der dänischen Kabine in nur einem Satz: «Die Spieler sind komplett durch und emotional erschöpft.»
Mitten während des EM-Auftaktspiels gegen Finnland kollabierte der beste dänische Spieler Christian Eriksen auf dem Rasen und blieb regungslos liegen. Sanitäter kämpften minutenlang um sein Leben, die Zuschauer im Stadion und an den Bildschirmen zitterten um ihn. Und seine Mitspieler standen schockiert und mit Tränen in den Augen direkt daneben.
Spiel wird fortgesetzt – Finnland gewinnt
Als klar war, dass der 29-Jährige wieder bei Bewusstsein ist und in ein Krankenhaus gebracht wurde, ließ die UEFA das Spiel nach mehr als anderthalbstündiger Unterbrechung fortsetzen. Dass die Dänen am Ende noch mit 0:1 (0:0) verloren und der EM-Debütant Finnland mit seinem Torschützen Joel Pohjanpalo (60.) sowie Lukas Hradecky (74.), der einen Elfmeter hielt, jetzt sogar zwei neue Fußball-Helden hat, blieb an diesem Samstagabend aber nur eine Randnotiz. «Alle Gedanken sind jetzt bei Christian und seiner Familie», sagte Hjulmand. «Wir wurden heute daran erinnert, was das Wichtigste im Leben ist: Dass man Menschen um sich herum hat, die einem nah stehen. Ich könnte nicht stolzer auf meine Spieler sein. Was sie geleistet haben, war unglaublich.»
Der dänische Trainer wies zurück, dass beide Teams vom europäischen Verband zur Fortsetzung der Partie gedrängt wurden. «Wir hatten zwei Optionen: Das Spiel fortzusetzen oder morgen um 12.00 Uhr zu spielen. Jeder wollte heute spielen», sagte der ehemalige Coach von Mainz 05. Auch Finnlands Torschütze Pohjanpalo bestätigte: «Das Wichtigste ist: Es geht Christian gut. Er wollte, dass wir weiterspielen. Das dänische Team und wir haben diesen Wunsch respektiert.»
Eriksen bei Bewusstsein ins Krankenhaus
Es waren schockierende Bilder auf dem Rasen. Es dauerte mehr als eine quälend lange Stunde, ehe der dänische Verband DBU mitteilte, dass der 29-Jährige bei Bewusstsein ist und ins Reichskrankenhaus gebracht wurde. «Wir haben Kontakt mit Christian gehabt, und die Spieler haben mit ihm gesprochen. Es geht ihm gut», sagte der Direktor des dänischen Fußballverbandes DBU, Peter Møller, dem Rundfunksender DR und Nationaltrainer Hjulmand berichtete nach dem Spiel: «Wir haben es geschafft, Christian zurückzuholen. Er hat mit mir gesprochen, bevor er ins Krankenhaus gebracht wurde.»
Dass das Spiel beim Stand von 0:0 fortgesetzt wurde, sorgte vor allem in sozialen Netzwerken für viel Kritik. Im Stadion herrschte aber größtenteils Jubel, der vor allem eines ausdrückte: Erleichterung, dass Eriksen am Leben ist. Während des Wartens auf die Fortsetzung gab es eine beeindruckende Stimmung der Empathie und Solidarität. Finnische Fans riefen: «Christian». Dänische riefen zurück: «Eriksen!» Alle im Stadion applaudierten.
«Wir bringen es jetzt hinter uns»
Gerade die dänischen Spieler kamen teils mit Tränen in den Augen auf den Rasen zurück. Torwart Kasper Schmeichel nahm vor dem Wiederanpfiff jeden Mitspieler in den Arm. Zusammen mit allen Betreuern und Medizinern bildeten die Dänen einen Kreis. «Die Spieler waren sich sicher, heute nicht mehr schlafen zu können. Es war besser, zu sagen: Wir bringen es jetzt hinter uns», sagte Hjulmand.
In den verbleibenden knapp 50 Minuten ging es überraschend schnell, bis zumindest etwas fußballerische Scheinnormalität wieder einkehrte. Die dänischen Spieler versuchten mit viel Engagement, das 0:1 noch aufzuholen. Pohjanpalo wollte nach seinem Siegtor in der 60. Minute zunächst jubeln, tat das dann aber doch nicht. «Wenn man ein Tor schießt, ist immer der erste Reflex, zu jubeln. Mir war aber schnell klar, dass das heute nicht angebracht ist», sagte Pohjanpalo.
Die UEFA kürte Eriksen nach dem Spiel als Geste zum «Man of the Match». «Momente wie diese relativieren alles im Leben. Ich wünsche Christian eine vollständige und schnelle Genesung und bete, dass seine Familie Kraft und Glauben hat», wurde Aleksander Ceferin als Präsident der Europäischen Fußball-Union auf Twitter zitiert.
Kollaps ohne Fremdeinwirkung
Die Aktion passierte in der 43. Minute ohne gegnerische Einwirkung. Bei einem Einwurf ging Eriksen dem Ball entgegen und sackte dann zu Boden. Die Spieler um ihn herum sahen direkt die Notlage und riefen medizinische Hilfe herbei. Danach begannen die dramatischen Minuten. Es war zu sehen, wie Rettungskräfte eine Herzdruckmassage bei ihm durchführten. Die dänischen Spieler versammelten sich teils den Tränen nahe um ihren Mitspieler. Schließlich wurde Eriksen auf einer Rettungstrage, unter Sichtschutz aus dem Innenraum des Stadions gefahren und ins Krankenhaus gebracht.
Es wurden schlimme Erinnerungen an das Halbfinale im Confederations Cup 2003 in Lyon wach, als der Kameruner Marc-Vivien Foé im Spiel gegen Kolumbien plötzlich zusammenbrach und auf Höhe der Mittellinie regungslos liegen blieb. Kurz darauf starb Foé. Die Todesursache war Herzversagen.
Große Anteilnahme in der Fußball-Welt
In den sozialen Medien drückten Fußballstars weltweit ihre Anteilnahme aus. «Geschockt. Wir sind alle bei dir, Christian Eriksen. Sei bitte ok», schrieb etwa Weltmeister Mesut Özil und Marco Reus twitterte: «Werd schnell wieder gesund @ChrisEriksen8.» Reus‘ Dortmunder Teamkollege Jadon Sancho schrieb: «Meine Gebete gehen an Dänemark». Auch die deutsche Nationalmannschaft wünschte aus ihrem EM-Quartier gute Besserung.
Die finnische Regierungschefin Sanna Marin, die kurz zuvor noch ein Foto von sich im Finnen-Trikot gepostet hatte, schrieb auf Twitter: «Unsere Gedanken sind jetzt bei Christian Eriksen.» Dazu stellte sie ein Herz und eine Dänemark-Flagge. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich bei seinem Dänemark-Besuch betroffen.
Der Mittelfeldspieler des italienischen Meisters Inter Mailand ist der Star des dänischen Teams. Gegen Finnland bestritt er bereits sein 109. Länderspiel, 36 Treffer stehen auf seinem Konto. Im Januar 2010 hatte Eriksen sein Profidebüt für den niederländischen Rekordmeister Ajax Amsterdam gegeben, mit dem er 2011, 2012 und 2013 Meister wurde. Danach folgte sein Wechsel zum Premier-League-Spitzenclub Tottenham Hotspur, wo seine Karriere richtig Fahrt aufnahm. Seit Januar 2020 spielt er in der Serie A für Inter. In Dänemark wurde er mehrmals zum Fußballer des Jahres gewählt.