Endzeit statt Aufbruch – und Flick ist noch da

Der strahlende Sonnenschein und die glückseligen Kinder passten ganz und gar nicht zur Endzeitstimmung im deutschen Fußball. Der sich hilflos an seinen Job klammernde Hansi Flick und seine wieder von Japan gedemütigten Nationalspieler schrieben am Tag nach der 1:4-Blamage in Wolfsburg tapfer Autogramme.

Sie machten beim lange geplanten öffentlichen Training für die Handykameras gute Miene zum erschreckend schlechten Spiel. Flick war da noch Bundestrainer – nur wie lange noch? Am Dienstag (21.00 Uhr/ARD) wartet in Dortmund Vize-Weltmeister Frankreich.

Historische Negativserie

«Ich finde, wir machen es gut, und ich bin der richtige Trainer.» Das war der Satz des 58-Jährigen, der bleiben wird von diesem Wochenende in Wolfsburg, an dem die tiefgreifenden Probleme, die Risse und der desolate Zustand der DFB-Auswahl deutlich wurden wie beim desaströsen Vorrunden-Aus bei der WM vor neun Monaten in Katar. Damals hatte der Deutsche Fußball-Bund an Flick festgehalten, verbessert hat sich seitdem nichts – im Gegenteil. Drei Niederlagen nacheinander gab es zuletzt vor knapp 40 Jahren.

Und so wirkte das Trainingsgeschehen in dem kleinen Stadion in den grün-weißen Wolfsburger Farben surreal. Das Trainerteam spulte das Programm für die Reservisten ab wie an jedem anderen Tag. Die Stammspieler um Torwart Marc-André ter Stegen, der trotz vier Gegentoren noch Deutschlands Bester gewesen war, zeigten sich den offiziell 2376 Fans und zogen sich dann ins nahegelegene Teamhotel zurück. Die Nationalmannschaft bereitete sich auf Frankreich vor. «Das werden wir auch weiter tun, da gibt es nichts dran zu deuteln», sagte Flick am Samstagabend. «Wir sind überzeugt von dem, was wir machen. Deswegen geht es auch so weiter für mich.»

Der Bundestrainer, seine wieder von ihm mit Experimenten überforderte Mannschaft, der DFB – das Gesamtbild war trotz der schönen Bilder am Sonntag neun Monate vor der Heim-EM besorgniserregend. DFB-Chef Bernd Neuendorf schwieg ebenso wie sein Präsidium. Sportdirektor Rudi Völler sprach vor dem Training zu den Fans, sagte, es sei «selbstverständlich, dass wir uns hier stellen». Flick sprach nicht. Ein Anzeichen, dass vielleicht doch für Frankreich eine Interimslösung oder der auch als EM-Option gehandelte Matthias Sammer (56) übernehmen?

Verschiedene Kandidaten

Unmittelbar nach dem 1:4-Schock, bei dem nur Leroy Sanés Treffer zum 1:1 kurzzeitig Hoffnung auf eine Stimmungswende im EM-Gastgeberland weckte, waren rund um das Wolfsburger Stadion wieder die Namen geraunt worden, die Flick seit Wochen wie Schatten begleiten. Der frühere Bayern-Trainer Julian Nagelsmann (36) wäre für den von großen finanziellen Problemen geplagten Verband teuer, auch wenn die Bayern mithelfen würden. Jürgen Klopp (56) scheint weiter unerreichbar an den FC Liverpool gebunden. Reformer Ralf Rangnick (65) ist bei Österreichs Nationalteam und im Nachbarland sehr erfolgreich.

Stefan Kuntz (60) trainiert die Türkei. Der einstige U21-Erfolgstrainer könnte aber nicht abgeneigt sein, zum DFB zurückzukehren, auch wenn der Verband einst Flick ihm vorzog. Im November spielt die Nationalmannschaft zum Jahresabschluss sicher in Wien gegen Rangnick und wahrscheinlich zuvor in Berlin gegen Kuntz. Oder wechselt einer der beiden die Seiten? Auf dem Markt ist der Österreicher Oliver Glasner (49), der Eintracht Frankfurt zum Europa-League-Triumph geführt hatte. Rekordnationalspieler Lothar Matthäus sagte, Bundestrainer passe nicht in seine «Lebensplanung».

Das große Schweigen der Verbandsverantwortlichen deutet stark darauf hin, dass ein Plan B trotz der alarmierenden Ergebnisse im Juni mit einem Remis und zwei Niederlagen nicht bereitliegt. Die nach dem WM-Aus eilig installierte Task Force mit den Granden um Völler, Sammer, Karl-Heinz Rummenigge, Neuendorf und DFL-Chef Hans-Joachim Watzke wäre dafür zuständig. Das 1:4 gegen Japan war noch einmal ein Schritt zurück, mindestens.

Gescheitertes Systemexperiment

«Es geht nicht darum, mit dem Finger auf den Trainer oder sonst jemanden zu zeigen», sagte Joshua Kimmich, der in Flicks gescheitertem Systemexperiment eine zentrale Rolle gespielt hatte. Der Bayern-Profi machte es als in den Spielaufbau einrückender Rechtsverteidiger gar nicht so schlecht, als Team gelang aber gar nichts. Dazu kamen «individuelle Fehler», wie Flick beklagte. Allen voran vom Dortmunder Nico Schlotterbeck, den der Bundestrainer dennoch lange auf dem Platz ließ.

«Am Ende des Tages müssen wir dem Trainer vertrauen, dass er die richtigen Entscheidungen trifft, dass er weiß, was richtig und gut für die Mannschaft ist», sagte Kimmich. Sie «müssen» ihm vertrauen – Überzeugung klingt anders. «Die Japaner spielen eine gute Rolle und gehören aktuell sicher zu den Top 10, Top 15 der Welt. Und wir gehören da aktuell nicht rein», sagte Rückkehrer Thomas Müller. Allenfalls in der Theorie. «In der Praxis sieht es anders aus.»

Ein trauriger Kanzler

Die internationale Häme («Desaster für Deutschland», «Bizarrer Führungsstil», «Mega-Krise») trifft den DFB vor dem EM-Weltereignis im eigenen Land hart. Am Sonntag urteilten auch die Ehemaligen abstrafend. «Diesen ganzen Ballbesitzfußball kannst du in die Mülltonne klappen. Das ist nicht die Mannschaft, die ich mir vorstelle, dass sie die Wende schafft», sagte Rekordnationalspieler Matthäus. Stefan Effenberg meinte im Sport1-«Doppelpass», «dass der Trainer die Mannschaft nicht mehr erreicht, dass gehandelt werden muss und dementsprechend auch ein neuer Trainer kommen muss».

Aus Neu-Delhi meldete sich Bundeskanzler Olaf Scholz, der im Interview bei Welt TV angab, «traurig» wegen der DFB-Auswahl zu sein. Am Nachmittag konnte sich der SPD-Politiker den überaus erfolgreichen Basketballern zuwenden.

Von Jan Mies, Klaus Bergmann und Sebastian Stiekel, dpa