«Feuer frei!»: Handballer wollen Euphorie entfachen

Unmittelbar nach der Ankunft im eiskalten Bratislava wollte Handball-Bundestrainer Alfred Gislason keine Zeit verlieren.

Bei Minustemperaturen in der slowakischen Hauptstadt verließ der Isländer am Mittwochnachmittag als Erster den Mannschaftsbus und eilte mit seinem Koffer ins warme Teamhotel. Eine lange Aufwärmphase bleibt dem 62-Jährigen und seiner völlig neu formierten DHB-Auswahl ohnehin nicht. Schon am 14. Januar (18.00 Uhr/ARD) beginnt für die deutschen Handballer mit dem Auftaktspiel gegen Belarus die von vielen Fragezeichen begleitete Mission Europameisterschaft.

«Alles ist bisher perfekt gelaufen. Wir sind happy, hier zu sein, und wollen jetzt die nächsten Schritte gehen», sagte DHB-Sportvorstand Axel Kromer vor dem Teamhotel in der Innenstadt. «Wir haben eine gute Stimmung, wir haben Vorfreude – und vor allem die Spannung steigt jetzt.» Am Mittwochabend stand für die Mannschaft bereits die erste Trainingseinheit in der Slowakei auf dem Programm, am Donnerstag folgt ein weiteres taktisch geprägtes Training. Und dann geht es los. «Von daher: Feuer frei!», betonte Kromer. Die Vorzeichen scheinen derzeit zumindest nicht die schlechtesten.

Ohne Medaillienziel ins Turnier

Vielleicht wiederholt sich sogar die Geschichte von 2016, als die DHB-Auswahl in Polen völlig überraschend Europameister wurde. Vom damals ausgelösten Boom ist nach fünfeinhalb medaillenlosen Jahren – das letzte Edelmetall gab es im Sommer 2016 mit Olympia-Bronze – nicht mehr viel übrig geblieben. Der Verband könnte einen erfrischenden Auftritt der Nationalmannschaft, die das Flaggschiff der gesamten Sportart ist, daher gut gebrauchen.

Konkrete Zielvorgaben für die neu formierte Mannschaft, in deren Reihen immerhin acht Turnierneulinge stehen, gibt es jedoch nicht. «Wir wollen unserem Team bei dieser EM ohne Medaillendruck die Möglichkeit geben zu zeigen, wie weit es schon zusammengewachsen ist», sagte DHB-Präsident Andreas Michelmann in einem Interview der «Mitteldeutschen Zeitung». «Ohne Rucksack in ein solches Großereignis zu gehen, ist zweifelsohne ein Vorteil.» Man könnte es auch als Lerneffekt bezeichnen. In den vergangenen Jahren hatte der Verband immer wieder Medaillenziele vorgegeben – und sie teils klar verfehlt.

Nun soll der Mannschaft Zeit gegeben werden. Jung, dynamisch und voll fokussiert – so hat sich die DHB-Auswahl in der Vorbereitung präsentiert. «Jeder Spieler, egal ob alt oder jung, egal ob neu oder schon länger dabei, hat Bock, für diese Mannschaft alles zu geben», beschrieb Rechtsaußen Timo Kastening das von allen gelobte Binnenklima. «Man merkt, dass ein extremer Schwung entstanden ist durch die Debütanten. Da wurde ein neues Feuer entfacht», berichtete Spielmacher Philipp Weber. Wofür das letztlich reicht, wird sich zeigen. «Wir sind so ein bisschen die Wundertüte bei dem Turnier. Keiner weiß, wo wir stehen», sagte Weber.

«In einen Flow spielen»

Nach Ansicht von Kastening, der als Kabinen-DJ für gute Laune sorgt, gehöre man «auf keinen Fall» zu den Favoriten. «Aufgrund der vielen Debütanten und der in der Vergangenheit verfehlten Medaillenziele wäre es vermessen, vom Halbfinale zu sprechen», sagte der 26-Jährige. Doch auch ihm sind Lust und Kampfgeist anzumerken: «Wenn wir die Spannung hochhalten und uns in einen Flow spielen sowie von Corona und Verletzungen verschont bleiben, können wir für die eine oder andere Überraschung sorgen.»

Darauf hofft der DHB, dessen sportliche Erwartungen zuletzt regelmäßig enttäuscht wurden. «Für uns spielen solche Turniere gerade in Pandemiezeiten eine wesentliche Rolle. Die EM hilft uns massiv, weil wir dadurch für die Sportart werben und Mitglieder gewinnen können», sagte der Vorstandsvorsitzende Mark Schober. Allerdings nur, wenn die Leistung stimmt.

Kann das DHB-Team an 2016 anknüpfen?

In der Vorrunde bekommt es die deutsche Mannschaft neben Belarus noch mit Österreich und Polen zu tun. Die zwei besten Teams ziehen in die Hauptrunde ein. «In dieser Gruppe kann alles passieren», warnte Kapitän Johannes Golla. Sportvorstand Kromer gab dennoch das Ziel aus: «Wir wollen möglichst mit optimaler Punktausbeute weiterkommen.»

Sollte das gelingen, könnte sich Geschichte vielleicht wirklich wiederholen. «Damals war es auch ein junges Team mit vielen Debütanten, die frei aufspielen konnten», sagte Neuling Lukas Mertens. «Ich hoffe, dass wir das auch in diesem Turnier machen können und unseren jungen, hungrigen Spielstil auf die Platte bringen. Vielleicht geht es dann ein wenig in die Richtung wie 2016.» Bundestrainer Gislason jedenfalls machte sich ziemlich schnell daran, seinen Plan für ein möglichst neues EM-Wintermärchen zu entwerfen.

Von Eric Dobias und Nils Bastek, dpa