Flick im Ich-Modus gegen WM-Zweifel

Nach seiner frustrierenden Premieren-Niederlage schaltete Hansi Flick in den Ich-Modus. Der Bundestrainer als Egoist? Nein. Ganz im Gegenteil.

Bei allem Ärger über das 0:1 gegen Ungarn als radikalem WM-Stimmungsdämpfer lenkte Flick, der im Erfolgsfall immer im «Wir» von sich und seinem Team spricht, den Fokus auf sein Fehlverhalten. «Ich will keine Ausreden suchen», sagte der 57-Jährige. Und: «Ich bin natürlich schon enttäuscht, absolut, weil man nie gerne verliert.» Die Aufstellung habe nicht funktioniert. «Deswegen muss ich einen Teil des Ganzen auf meine Kappe nehmen.»

Das verbale Schutzschild, das Flick aufbaute, erfüllte einen Zweck. Der plötzliche Negativ-Fokus soll sich bloß nicht auf die Mannschaft richten. Das letzte Spiel vor der Bekanntgabe seines WM-Personals gegen A-Liga-Absteiger England am Montag (20.45 Uhr/RTL) in Wembley hat für die Nations League keine Relevanz mehr. Aber für Flick ist es jetzt das maximal wichtige Barometer für die Gefühlslage der Fußball-Nation nur 49 Tage vor dem Abflug an den Arabischen Golf.

Blutleerer Auftritt gegen Ungarn

Flick spürte nach dem verpassten Gruppensieg in der Nations League genau, wie schnell sich die Fußball-Großwetterlage um die Nationalmannschaft drehen kann. Acht Siege in Serie, 13 Spiele ungeschlagen. Die Statistiken seines als Verheißung registrierten ersten Jahres als DFB-Chefcoach sind plötzlich nichts mehr wert.

Jetzt heißt die Bilanz: Nur ein Sieg aus den vergangenen sechs Spielen und ein blutleerer Auftritt gegen beherzte Ungarn, die nicht einmal für Katar qualifiziert sind. Oliver Bierhoffs Vorgabe: «Zurück in die Weltspitze» darf nicht in der Sackgasse enden.

Zwei Monate vor dem WM-Anpfiff mit dem Ungarn-ähnlich kniffligen Auftaktgegner Japan sieht sich Flick massiven Zweifeln ausgesetzt. Erstmals muss sich der einstige Sieben-Titel-Trainer des FC Bayern München als Chefcoach mit einem Negativtrend auseinandersetzen. Eine Niederlage in England – und das Wort Krise wird fallen.

Bierhoff hält an WM-Ziel fest

Der fünfte WM-Titel kurz vor Weihnachten erscheint jetzt schon als großspuriges Ziel. Auch wenn Bierhoff trotzig an den Ambitionen festhält. «Das Ziel bleibt. Na klar, wird man nach diesem Spiel sagen, wie kann man das sagen. Aber wir fangen auch bei dem Turnier bei Null an», sagte der DFB-Direktor für die Nationalmannschaften.

Doch auch Bierhoff hat das WM-Debakel von Russland vor vier Jahren nicht vergessen. Seine Turnierwarnung: «Wir haben es 2018 gesehen, sobald du dir eine Schwäche erlaubst bei einem Turnier, läufst du hinterher. Dann kommt die Psyche mit rein, dann wird es schwer. Insofern müssen wir gewappnet sein», mahnte der 54-Jährige.

Aus dem Hotel-Koloss im Herzen von Leipzig konnte Flick am Samstag noch einmal hinabschauen bis hinaus zur Arena, wo am Vorabend ziemlich viel ziemlich schief gelaufen war. «Die erste Halbzeit war mit Sicherheit die schlechteste in den 14 Länderspielen. Wenig Mut, wenig Vertrauen, wenig Dynamik, wenig Intensität – viele Fehler», zählte der Bundestrainer rügend auf.

Flick kann bei der Aufarbeitung zumindest auf selbstkritische Spieler zählen. «Wir haben definitiv sehr viel zu tun. Wir müssen mehr machen», sagte der nach seiner zweiten Gelben Karte im Wettbewerb in England gesperrte Antonio Rüdiger. Ilkay Gündogan beschrieb es ähnlich: «Insgesamt sehr langsam, sehr behäbig, kaum flexibel und viele 50:50-Duelle einfach abgegeben.» Und Thomas Müller räumte ein: «Wir stehen relativ argumentlos da.»

Umbau vor Wembley-Spiel

Statt am Montag in Wembley gegen England als Tabellenführer um den angepeilten Gruppensieg in der Nations League zu spielen, muss der Bundestrainer seinen Spielern wie den enttäuschten Fans im Land erklären, wie es beim Turnier in Katar wieder besser laufen kann. «Die Niederlage ist vielleicht zur rechten Zeit gekommen, das ist mir lieber, als wenn es bei der WM ist», sagte Flick. «Die Niederlage wirft uns nicht um», sagte er trotzig.

Alles wird der Bundestrainer nicht über den Haufen werfen. In England wird er aber zumindest partiell umbauen müssen. Für den gesperrten Rüdiger dürfte Nico Schlotterbeck in die Abwehrkette rücken. Jonas Hofmann wird nach dem Taktikfehler-Eingeständnis von Flick nicht mehr als rechter Außenverteidiger auflaufen.

Auf der linken Außenbahn sollte Robin Gosens nach einem Jahr wieder eine Bewährungschance für den Neu-Leipziger David Raum erhalten, der weit entfernt ist von Flicks WM-Level. Jamal Musiala, in London aufgewachsen und ein großer Wembley-Fan, ist der Hoffnungsträger für offensive Leichtigkeit und zwar für mehr als 20 Joker-Minuten wie gegen Ungarn. «Jamal ist ein toller Fußballer», sagte Flick über den Bayern-Teenager. Er habe «das gewisse Etwas». Das braucht er jetzt.

Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa