Als sich Kai Havertz und seine Kollegen in den zwei schwarz-rot-goldenen Teambussen gegen Mitternacht auf den Rückweg nach Frankfurt machten, kreischten die jungen Fans der deutschen Fußball-Nationalmannschaft begeistert vor der Arena in Sinsheim.
Für Torwart Manuel Neuer dürfte vom DFB-Tross wenig später auch ein Ständchen zum 36. Geburtstag erklungen sein. Nur Hansi Flick war nicht nach Jubelchor zu Mute. Das 2:0 gegen Israel zum Start ins WM-Jahr nahm der Bundestrainer ziemlich kontrolliert zur Kenntnis.
«Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden. Die Freude wäre etwas getrübt gewesen, wenn wir zum Schluss beim Elfmeter noch ein Gegentor bekommen. Es hat gezeigt, dass man immer 90 Minuten hochkonzentriert agieren muss», sagte Flick am späten Samstagabend. Der 57-Jährige weiß genau: Für einen Test gegen Israel war der Auftritt passabel. Für die großen WM-Ziele reicht so eine Leistung aber lange nicht.
Messlatte liegt hoch
Die Messlatte hatte der Bundestrainer schon vor seinem achten Sieg im achten Spiel höher gelegt. Die Niederlande kommen ihm als nächster Kontrahent und erstes echtes Fußball-Schwergewicht in seiner noch kurzen Amtszeit beim nächsten Katar-Test am Dienstag nun gerade recht. Auch wenn er sich noch in Sinsheim nicht groß über Oranje und das Duell mit seinem Trainer-Vorbild Louis van Gaal in Amsterdam äußern wollte: «Wir tun gut daran, dieses Spiel nochmal auf uns wirken zu lassen. Danach werden wir versuchen, die Mannschaft so aufzustellen, dass sie ein gutes, erfolgreiches Spiel machen kann.»
Flick will am Sonntag im DFB-Teamhotel in Gravenbruch noch die Israel-Erkenntnisse sortieren. Davon gab es einige. Die wichtigste: Die DFB-Elf braucht dringend echte Gradmesser, um sich die erhoffte Titelreife anzueignen. Nach Holland folgen im Juni neben Ungarn in Italien und England entsprechende Kontrahenten in der Nations League.
Klar ist auch, dass gegen Israel fehlende oder geschonte Fixgrößen wie Neuer, Antonio Rüdiger, Joshua Kimmich oder Serge Gnabry mit Blickrichtung WM mehr Qualität mitbringen werden.
Luft nach oben bei der Chancenverwertung
Havertz ist als Offensivkraft unverzichtbar, nicht nur wegen seines Kopfballtreffers. Obwohl die zu lässige Chancenverwertung – auch von Havertz – Flick generell nicht gefiel. «Leider haben wir manche Torchance nicht konsequent ausgenutzt. Die müssen wir gegen Gegner, die ein anderes Kaliber sind, ausnutzen», forderte der DFB-Chefcoach.
Timo Werner braucht den DFB-Orbit dringend, um die miesen Zeiten bei Chelsea abzustreifen. «Wir sind dazu da, dass wir ihm die Spielzeit geben. Man merkt, dass er vom Rhythmus nicht so ganz im Spiel war», sagte Flick über seinen zweiten Torschützen, der mit nun sechs Toren immerhin der Top-Scorer seiner Amtszeit bleibt.
Und dann war da die Causa Nico Schlotterbeck als Paradebeispiel des großen personellen Test-Events. Der Freiburger Innenverteidiger überzeugte bei seinem Debüt, spielte gute vertikale Pässe und verdarb sich durch sein schusseliges Elfmeterfoul in der Nachspielzeit eine Bewertung mit Prädikat und Sternchen. Kevin Trapp verhinderte mit seiner Strafstoßparade einen Stimmungsdämpfer. Doch Flick machte im ZDF klar. «Die letzte Aktion ist hoffentlich für ihn eine gute Lehre.» Denn: «Bei einer Weltmeisterschaft kann so ein Ding in der 90. Minute tödlich sein.»