Flicks erstes Finale: Tacheles vor Spanien-Showdown

Mit strengem Blick überwachte Hansi Flick jede Passübung. Kein Detail wollte der Bundestrainer beim Training unter gleißendem Flutlicht übersehen. Sein Assistent Danny Röhl erklärte mit Hilfe einer großen Taktiktafel die Idee für den Spanien-Showdown.

Die Japan-Niederlage wirkt nach. Im wenige Kilometer entfernten Wellness-Palast der Fußball-Nationalmannschaft hat es ordentlich gescheppert. Nach der Krisensitzung soll Spaniens Tor-Maschine mit Wut im Bauch gestoppt und der WM-K.o. abgewendet werden.

«Jeder weiß, was nach dem Meeting Sache ist», berichtete Offensivspieler Kai Havertz von einer emotionalen Aussprache im Teamquartier am Nordzipfel Katars. Das 1:2 gegen Japan hat die auch von Flick suggerierte Wohlfühl-Atmosphäre in dem von DFB-Direktor Oliver Bierhoff als WM-Oase gebuchten Luxushotel am Persischen Golf auf jeden Fall beendet.

Havertz: War Zeit, sich «die Wahrheit zu sagen»

Kritik und Vorwürfe wurden demnach vor dem Gruppenspiel mit Finalcharakter gegen den seit 34 Jahren in einem Pflichtspiel nicht mehr besiegten Angstgegner Spanien offen an- und ausgesprochen. Es sei Zeit gewesen, «miteinander zu sprechen und sich die Wahrheit zu sagen», betonte Havertz vor der Partie am Sonntag (20.00 Uhr/ZDF und MagentaTV) im Al-Bait Stadion. Die Fundamentalschelte von İlkay Gündoğan nach der Japan-Pleite? Kein Problem, meinte Havertz: «Man geht sich auch mal an.»

Flick kommt das Reizklima gelegen. Und es wird noch verstärkt durch das, was die Spieler in ihrem Quartier an Feedback aus der Heimat erreicht. «Ich kann verstehen, dass Negativität aufkommt», sagte Havertz. «Ich weiß, dass viel geschossen wird und nicht jeder hinter uns steht», berichtete der 23-Jährige. Eine Stimmungslage, die auch auf Bierhoff zutraf. «Nach dem Spiel hat es richtig bei mir rumort», sagte der DFB-Direktor am Freitag bei MagentaTV. Auch Kapitän Manuel Neuer berichtete in dem Interview von seiner Gefühlslage. «Ich war natürlich sehr enttäuscht. Es brodelt immer noch.»

Für Nettigkeiten ist die Lage zu prekär. Bierhoff spricht vom «ersten Endspiel» schon vor der K.o.-Phase, die eigentlich mit dem Achtelfinale beginnt. «Das Ziel ist, die Mannschaft so hinzukriegen, dass sie den Glauben hat, dass sie das Ding in die richtige Richtung schieben kann», sagte wiederum Flick. Eine zweite Niederlage könnte das WM-Aus bedeuten. Flick stünde als DFB-Chefcoach – nach nur 15 Monaten – zur Disposition.

Kein genereller Umbruch im DFB-Team zu erwarten

Pushen mit gut dosierter Provokation ist angesagt. Vielleicht braucht die Generation der auf der allergrößten Bühne noch glücklosen Titeljäger um Joshua Kimmich, Niklas Süle und Serge Gnabry genau das. «Wir müssen abgezockter werden», forderte Kimmich. Die Reibung soll Energie erzeugen. «Das Letzte, was man dem Trainer vorwerfen kann, ist, dass er nicht klar mit uns redet», merkte Havertz an. Vom (zu) «netten Hansi» wurde berichtet.

Von Flick ist aber auch nach der radikalen Ernüchterung kein genereller Umbruch zu erwarten. «Wir vertrauen der Mannschaft. Wir sind positiv und wollen das Spiel positiv angehen», sagte der 57-Jährige. «Wir haben viele gute Szenen, die wir der Mannschaft zeigen können mit Blick auf Spanien», sprach Flick sich in gewisser Weise selbst Mut zu. Gründe für generelle Zweifel sieht er trotz zahlreicher Kritikpunkte nicht.

Die Abwehrvariante mit Süle als Rechtsverteidiger dürfte beendet sein. Im Mittelfeld muss Flick klären, ob er um Kimmich und den neuen Chefkritiker Gündogan einen Platz für Leon Goretzka findet. Eine Heilung von Leroy Sanés rechtem Knie würde offensiv eine wichtige Option bescheren. Jamal Musiala könnte zentraler spielen. Beim Training am Freitag war Sané zumindest anfangs dabei, war mit getapten Knie auch wieder am Ball.

Ruhe bewahren im Krisenmodus

Entscheidungen müssen getroffen werden. Angst wäre ein schlechter Berater, das spürt Flick. Wer kann im Krisenmodus die nötige Ruhe bewahren? Wer kann die Erinnerung an den peinlichen Vorrunden-K.o. vor vier Jahren in Russland und die Déjà-vu-Sorgen abstreifen? «Es geht darum, den Mut zu haben, sich zu zeigen. Wir müssen schauen, dass jeder Einzelne sein Spiel für sich besser gestaltet», forderte der Bundestrainer vor der großen Prüfung.

Flick könnte auch einfach seine Bayern fragen. Die Münchner Mehrheitsfraktion im deutschen WM-Kader hat vor wenigen Wochen gezeigt, wie man spanische Fußball-Kunst demolieren kann. In der Champions League wurde der FC Barcelona mit 2:0 und 3:0 aus der Königsklasse geworfen. Das hat der große Barça-Block sicher noch nicht vergessen. Fünf Katalanen um die Wunderknaben Pedri (20) und Gavi (18) trumpften beim spanischen Sieben-Tore-Wirbel gegen Costa Rica auf. «Das 7:0 ist ein starkes Ergebnis», meinte Havertz. Aber deswegen verstecken? «Zu nullkommanull Prozent», sagte der Angreifer.

Keine Gedanken an das 0:6

Auch ein anderer spanischer Kantersieg darf keinen Einfluss haben. Jenes legendäre wie schmerzhafte 0:6 der DFB-Elf im November 2020 in der Nations League noch unter Bundestrainer Joachim Löw. Die schwarze Nacht von Sevilla spiele keine Rolle mehr, sagte Brandt. «Das ist zwei Jahre her. Wir sind in einer anderen Situation», begründete der Offensivspieler – in einer «Scheißsituation», wie er anmerkte. Genau die könne aber «Energie freisetzen», meinte Brandt und erinnerte an das 4:2 gegen Portugal bei der EM im Vorjahr. Auch damals war der Druck nach dem 0:1 zum Auftakt gegen Frankreich groß.

Mit historischen Querverweisen werden die DFB-Stars zuhauf konfrontiert. Jenes 4:2 gegen Cristiano Ronaldo und Co. war einer von nur zwei Siegen gegen aktuelle WM-Teilnehmer seit dem Debakel in Russland vor viereinhalb Jahren. Flick lastet der Makel an, noch nie ein Spiel gegen ein anderes Team gewonnen zu haben, das in Katar dabei ist. Seine einst hymnisch gefeierte Acht-Siege-Serie zum Start als DFB-Chefcoach hat längst den Makel, dass die Gegner vornehmlich der Kategorie Liechtenstein und Armenien angehörten.

Der deutsche Spanien-Komplex ist noch diffiziler. Ob Manuel Neuer, Kimmich oder auch Gündogan, 23 von Flicks WM-Spielern haben gegen Spanien noch nie gewinnen können. Das schafften nur Thomas Müller, Antonio Rüdiger und Mario Götze: Beim 1:0 im Test vor acht Jahren in einer Regennacht in Vigo.

Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa