Frankreichs riesiges Reservoir: Tiefpunkt war der Anfang

Christopher Nkunku wurde als Spieler von RB Leipzig 2022 Deutschlands Fußballer des Jahres und 2023 Torschützenkönig der Bundesliga. Randal Kolo Muani wurde in seinem ersten und einzigen Jahr bei Eintracht Frankfurt bester Scorer der Liga. Moussa Diaby war für Bayer Leverkusen in 172 Pflichtspielen an fast 100 Treffern beteiligt. 

In Deutschland würde wohl jeder von ihnen als Heilsbringer in der Offensive angesehen. In Frankreich sind die drei, die die Bundesliga im Sommer für insgesamt mehr als 200 Millionen verließen, nur drei unter vielen. Obwohl sie mit 24 und 25 im besten Fußballer-Alter sind, kommt keiner auf mehr als zehn Länderspiele, keiner stand öfter als viermal in der Startelf.

WM 2010 als Einschnitt im französischen Fußball

Das Reservoir beim Vize-Weltmeister scheint schier unerschöpflich, gerade im Offensivbereich. Und wenn man nach den Gründen fragt, hört man immer wieder ein Wort: Knysna. Im französischen Fußball unterteilen sie nämlich alles in eine Zeit vor Knysna und eine Zeit danach. Denn in jenem Städtchen an der Garden Route, wo die Équipe Tricolore bei der WM 2010 in Südafrika ihr Quartier aufgeschlagen hatte, erlebte der französische Fußball seinen absoluten Tiefpunkt. Als Vize-Weltmeister schieden die Franzosen als Gruppenletzter aus, zudem sorgte ein Spielerstreik für großes Aufsehen.

Doch danach drehten die Franzosen alles auf Links. Die Änderungen in der Ausbildung, die der nach der WM 2010 als Technischer Direktor angetretene Francois Blaquart ins Leben rief, gelten als regelrechte Revolution. «Die Baustelle war riesig», sagte Blaquart zu «Eurosport»: «Die Ausbildung der Trainer und ihrer Ausbilder musste komplett überarbeitet werden.» Dabei habe es einen klaren Plan gegeben: «Wir hatten keine Fantasie mehr im Spiel. Also mussten wir die Spieler befreien und sie kreativer machen.» 

Und das sieht sein Nachfolger Hubert Fournier im Nachhinein als den Schlüssel zum Erfolg an. Das große Reservoir vor allem an Offensivspielern sei das Ergebnis «der neuen Ausrichtung der Trainingsprozesse, mehr Eigeninitiative und eine gewisse Freiheit im Offensivspiel», sagte der frühere Bundesliga-Spieler von Borussia Mönchengladbach der Deutschen Presse-Agentur.  Der Verband FFF habe in mehr als 300 technische Betreuer investiert, 15 Jugendzentren für 13- bis 15-Jährige in ganz Frankreich und Übersee aufgebaut und die Klassifizierungskriterien für die Ausbildungszentren komplett überarbeitet. Nach dem Desaster 2010 habe man sich «nicht mehr nur auf die technisch-taktische Ausbildung konzentriert, sondern vermehrt auch auf die sozio-edukative. Das ultimative Ziel ist es, dass die Jugendlichen, die aus unseren Ausbildungszentren kommen, nicht nur fußballerisch fit sind, sondern auch verantwortungsbewusste Bürger.» 

Der DFB muss nun die richtigen Schlüsse ziehen

Zudem seien auch die Jugendtrainer besser auf alle Unwägbarkeiten ausgebildet. «Wir sensibilisieren sie, in einem immer aggressiveren Umfeld von Medien, Fans, Boards und Spielern zu „überleben“», sagte Fournier: «Die Spieler wurden in dieser Hinsicht immer unterstützt, bei den Trainern war das zuvor nicht immer der Fall.»

Wichtig sei auch, «eine frühzeitige Entwurzelung der Jugendlichen von der Familie zu verhindern», erklärte Fournier, der seit 2017 beim Verband arbeitet. Bis zum Alter von 13 Jahren dürften die Jugendliche nur Leistungszentren besuchen, die nicht weiter als 50 Kilometer vom Elternhaus entfernt sind, erklärte der 56-Jährige. «Bis zum Alter von 15 Jahren sind 100 Kilometer erlaubt. Erst nach Vollendung des 15. Lebensjahrs ist es erlaubt, ein Ausbildungszentrum im gesamten Land zu besuchen.»

An einen nachhaltigen Absturz Deutschlands aus der Weltspitze glaubt Fournier übrigens nicht. «Da ich regelmäßig die deutschen Jugendnationalmannschaften spielen sehe, mache ich mir keine Sorgen um die Zukunft. Ein Beweis dafür ist das Finale unserer beiden U17-Mannschaften bei der EM», sagte er und erinnerte an Deutschlands Sieg im Elfmeterschießen im Juni: «Die schwierige Phase, die die A-Nationalmannschaft durchläuft, ist zweifellos zyklisch, so wie sie auch der französische Fußball durchlaufen hat.» Doch er hat nach Knysna die richtigen Schlüsse gezogen.

Von Holger Schmidt, dpa