Hat Union das Meister-Wunderpotenzial?

Für eine Erklärung des Phänomens 1. FC Union Berlin legt Oliver Ruhnert eine Denkpause ein. Was haben die Eisernen, was auch Fußballclubs auszeichnete, die für große Überraschungen in ihren Ligen sorgten, sprich am Ende den Titel holten vor den großen und deutlich ruhmreicheren Rivalen?

So wie Leicester City in der Premier League 2016, davor Montpellier HSC in der Ligue 1 2012 und der 1. FC Kaiserslautern als Bundesliga-Aufsteiger 1998. 

«Dieses Empfinden von Arbeit und diese Mentalität, dass man etwas machen muss, um auch bestimmte Wettbewerbsnachteile wettzumachen, können zumindest dabei helfen, große Überraschungen zu schaffen», erklärt Ruhnert nach etwas längerem Grübeln. 2019 stiegen die Unioner auf, seither sind sie kaum zu halten.

Top-Spiel gegen RB Leipzig

Vor dem Spitzenspiel am Samstag (18.30 Uhr/Sky) bei RB Leipzig heißt es auf der offiziellen Internetseite der Bundesliga: «Union ist im Zeitraum seiner Bundesliga-Zugehörigkeit (seit 2019/20) auf Platz fünf zu finden.» Mit 187 Punkten in 121 Partien würden sie nur hinter dem FC Bayern, Borussia Dortmund, Gastgeber Leipzig sowie Bayer 04 Leverkusen liegen.

Unumstrittener Stadtmeister in Berlin im Duell mit der Krisen-Hertha ist Union auch schon. Kann der von Urs Fischer trainierte Club, der auch im DFB-Pokal und in der Europa League noch vertreten ist, sogar deutscher Meister werden?

Lautern, Montpellier, vor allem aber auch Leicester City – sie haben vorgemacht, wie am Ende der Underdog den Favoriten im Meisterkampf bezwingt. Und auch wenn die finanziellen Möglichkeiten bei Leicester beispielsweise andere waren und sind als bei Union und deren thailändischer Vereinsbesitzer auch mal eine Runde Nobelautos springen lässt, eint sie eines. 

«Eine Symbiose zwischen Trainer und Mannschaft, seinen Vorstellungen und ihren Fähigkeiten. Auch Teamgeist kann man planen», schrieb der «Kicker» einst über Leicester, das unter anderem mit dem ehemaligen deutschen Nationalspieler Robert Huth mit zehn Punkten Vorsprung auf den FC Arsenal Meister geworden war.

Starker Union-Teamgeist

Wer den 1. FC Union spielen, kämpfen und gewinnen sieht, könnte das mit dem Teamgeist auch auf Union beziehen, wobei geplant auch durch gewachsen ersetzt werden könnte. Dabei haben auch größere Veränderungen im Kader im Sommer an der Einheit auf dem Platz nie was geändert. «Die Mannschaft bewegt sich immer am Limit», sagte Trainer Urs Fischer: «Wie lange geht das gut? Im Moment setzen wir das sehr gut um. Aber wir dürfen keinen Zentimeter hergeben.»

So wie damals auch die Lauterer sich als Mannschaft präsentierten, selbst wenn die Namen aufhorchen ließen, wie bei der Verpflichtung von Michael Ballack oder Rückkehrer Ciriaco Sforza. «Überdies wuchs das Team unter Otto Rehhagel wieder zu einer Einheit zusammen und der Trainer verstand es, seinen Spielern ein Höchstmaß an Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl zu vermitteln und sie zu besonderen Leistungen zu motivieren», schreibt der FCK selbst über die märchenhafte damalige Saison. Am Ende standen die Roten Teufel, lange ein Sinnbild von bodenständigem Fußball mit Einsatz, Willen und Leidenschaft, zwei Punkte vor dem großen FC Bayern.

Montpellier HSC ist ein weiteres Beispiel. Paris Saint-Germain, der noble Hauptstadt-Club, wurde schon mit Geld aus Katar vollgepumpt, war am Ende aber geschlagen. Drei Punkte lag Montpellier 2012 vor PSG. «Wir kommen aus dem Süden aus einer Region, die nicht wohlhabend ist», sagte einmal der damalige Präsident Louis Nicollin: «Es steckt in unserer DNA, bis zum Ende zu kämpfen, keinen Zentimeter aufzugeben, aber auch demütig zu bleiben. Wir sind wie eine Familie.» 

Er selbst war ein Geschäftsmann, der auch mit mehr als derben Sprüchen auffiel, sich mal einen Irokesenschnitt verpassen ließ und aus der Müllentsorgungsbranche kam. Seit 1974 führte er als Präsident den Verein, bis zu seinem Tod 2017. Nachfolger wurde sein Sohn.

Große Union-Familie

Wie eine große Familie kommt auch Union gern rüber. Mit gut 22.000 Zuschauerinnen und Zuschauern haben die Köpenicker noch immer das kleinste Stadion in der Liga, die Alte Försterei ist dafür aber eine Festung mit Gänsehaut-Garantie. Die letzte Heimniederlage in der Meisterschaft liegt bald ein Jahr zurück. Am 13. Februar 2022 hatten die Unioner gegen den BVB zuhause verloren. «Große Überraschungen in der Bundesliga liefern wir ja nicht jetzt im ersten Jahr, sondern haben sie auch davor schon geliefert», sagt Ruhnert.

Jens Marx und David Langenbein, dpa