Her mit Holland: Flick braucht dringend den WM-Prüfstein

Hansi Flick lässt sich nicht einlullen. Auch nicht von seiner formidablen Rekord-Siegesserie. Die Vorfreude auf das Duell mit den Niederlanden und das Wiedersehen mit Vorbild Louis van Gaal unterdrückt der Bundestrainer bis zum Abflug nach Amsterdam.

Am Brückentag durften auch die Torgaranten Kai Havertz und Timo Werner im Teamquartier in Gravenbruch nach einem Geburtstagsständchen für Kapitän Manuel Neuer auf der nächtlichen Rückreise und der Umstellung auf die Sommerzeit immerhin bis in die Mittagsstunden ausschlafen.

Erst dann bat Flick zur Reflexion und Analyse. «Wir tun gut daran, dieses Spiel nochmal auf uns wirken zu lassen. Danach werden wir versuchen, die Mannschaft so aufzustellen, dass sie ein gutes, erfolgreiches Spiel machen kann», sagte Flick mit Blick auf den Klassiker gegen die Niederlande am 29. März (20.45 Uhr/ARD).

Das DFB-Team braucht dringend einen Prüfstein

Der Bundestrainer wusste gleich nach dem großen Erkenntnisabend in Sinsheim mit dem 2:0 gegen ein für die eigenen Ansprüche viel zu harmloses Israel: Noch nie war Hollands große Fußball-Power in dieser ungewöhnlichen Konstellation so wichtig für Deutschland. Auf dem Weg zur WM nach Katar braucht die Nationalmannschaft dringend einen Prüfstein vom Oranje-Kaliber. Acht Siege in acht Spielen unter Flick fielen ob der schwachen Konkurrenz bislang viel zu leicht – und der WM-Countdown tickt rasch runter.

Ein «gutes, erfolgreiches Spiel» hatte die DFB-Elf auch gegen Israel mit den soliden Rückkehrern Julian Weigl und Julian Draxler gezeigt. Doch die hohen Anforderungen, die in acht Monaten im Emirat am Golf warten, konnten wieder nicht simuliert werden. Ein WM-Stresstest steht für die DFB-Elf nun endlich an. «Es ist eine Mannschaft, die enorme Qualität hat und für uns ein Gradmesser ist», lautet Flicks Niederlande-Einschätzung. Mit ihrem Vier-Tore-Festival gegen ein starkes Dänemark bestätigte die Oranje-Auswahl dies am Wochenende. Van Gaal kontra Flick – das Spiel hat auch einen besonderen Reiz durch die gemeinsame Bayern-Vergangenheit beider Trainer-Größen.

Flick: «Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden»

Mit der Einordnung seiner Israel-Erkenntnisse hatte der ziemlich nüchtern analysierende Flick auch noch genug zu tun. «Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden», sagte der DFB-Chefcoach. Im Großen und Ganzen bedeutet aber eben immer auch, dass wichtige Details nicht passen oder eine intensivere Art der Qualitätskontrolle benötigen.

Präzision im Passspiel und die Chancenverwertung sind Flicks Themen. Keiner stand in Sinsheim aber so sehr für den Ist-Zustand wie Nico Schlotterbeck bei seinem Debüt zwischen großem Selbstvertrauen und fataler Sorglosigkeit. «Die letzte Aktion ist hoffentlich für ihn eine gute Lehre», mahnte Flick. Denn: «Bei einer Weltmeisterschaft kann so ein Ding in der 90. Minute tödlich sein», beschrieb Flick den vom Freiburger verursachten Strafstoß, den Kevin Trapp parierte.

«Die Freude wäre etwas getrübt gewesen, wenn wir zum Schluss beim Elfmeter noch ein Gegentor bekommen. Es hat gezeigt, dass man immer 90 Minuten hochkonzentriert agieren muss», äußerte Flick. «Brutal» würden solche Aussetzer in K.o.-Spielen in Katar bestraft.

Chelsea-Duo prägte den Jahresauftakt

Der «Arroganz»-Vorwurf von Ex-Weltmeister und TV-Experte Per Mertesacker gefiel weder Flick noch dem Adressaten Schlotterbeck. Er traf auch nicht den Kern. Es war die für Schlotterbeck typische Form der Schlafmützigkeit, die Flick dem jungen Verteidiger schon vorab attestiert hatte. «Das war einfach schlecht in der Situation», fand Schlotterbeck. Die WM-Perspektive des Linksfußes bleibt aber intakt, sofern er wie versprochen an seinen behebbaren Defiziten arbeitet.

Gegen die Niederlande wird sich Schlotterbeck wie auch der Mainzer Anton Stach als sechster Flick-Debütant wieder in der Hierarchie auf der Ersatzbank einordnen müssen. Der Personaltest gegen Israel ist abgeschlossen. In der Abwehr kehren in Amsterdam Antonio Rüdiger in seinem 50. Länderspiel und Torwart Neuer sicher ins Team zurück. In der Offensive sollen die gegen Israel nur als Teilzeitkräfte genutzten Bayern-Stammkräfte Thomas Müller und Leroy Sané gemeinsam mit Havertz und womöglich auch Werner für Torgefahr sorgen.

Das Chelsea-Duo prägte nicht nur mit seinen Toren den Jahresauftakt. Dabei verbindet sie derzeit eigentlich nur der Londoner Arbeitgeber. Werner braucht den DFB-Orbit, um die miesen Zeiten in England abzustreifen. «Wir sind dazu da, dass wir ihm die Spielzeit geben. Man merkt, dass er vom Rhythmus nicht so ganz im Spiel war», sagte Flick über seinen zweiten Torschützen, der mit nun sechs Treffern immerhin der Top-Scorer seiner Amtszeit bleibt. «Vielleicht passt das Spiel hier mehr zu mir. Ich fühle mich sehr wohl hier», sagte Werner.

WM-Optionen hat Flick. Die Rückkehr der diesmal aus verschiedenen Gründen nicht verfügbaren Fix-Größen Joshua Kimmich, Serge Gnabry, Leon Goretzka, Jonas Hofmann oder Robin Gosens verspricht Richtung Katar mehr notwendige Kader-Qualität. Sein Ensemble auf WM-Level zu hieven, hat der Bundestrainer zu seiner großen Aufgabe erklärt.

Nicht umsonst möchte er seine Kandidaten vor den vier Nations-League-Spielen gegen England, Ungarn und zweimal Italien nun im Mai noch eine Woche früher als bislang geplant zu einem Trainingslager zusammentrommeln.

Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa