Tief in der Nacht sangen die euphorisierten Halbfinalisten voller Inbrunst ihren Teamsong «Un’estate italiana».
Das imposante 2:1 (2:1) im Viertelfinalduell zweier Top-Favoriten bestärkte den Glauben der Italiener an die eigene Stärke und den ersten Titel seit anderthalb Jahrzehnten weiter. 32 Spiele ohne Niederlage, fünf Siege in fünf Partien der Europameisterschaft und jetzt die mit Bravour abgelegte EM-Reifeprüfung gegen Belgiens Goldene Generation – wer soll diese Azzurri schlagen?
«Haben noch nichts erreicht»
«Wir haben noch nichts erreicht, wir müssen noch mehr leisten. Wir können Großartiges erreichen», sagte Lorenzo Insigne. Mit seinem Traumtor in bester Arjen-Robben-Manier sorgte der Stürmer vom SSC Neapel für eines der offensiven Highlights in der Münchner Arena, die damit ihr letztes Spiel des Turniers erlebt hat. Vor der Einstimmung auf den Halbfinal-Gipfel am Dienstag gegen Spanien in der Londoner Fußball-Kultstätte Wembley ließ Trainer Roberto Mancini seine Stars am trainingsfreien Samstag durchschnaufen. Erstmal genießen, lautete der Auftrag des hochgeschätzten Spieler-Verstehers.
«Ich habe noch nie mit so einem Lächeln gespielt», berichtete Insigne. «Es ist, wie mit Freunden unter der Woche zu spielen. Er macht es möglich, dass wir unseren besten Fußball spielen.» Den Treffern von Insigne und Nicolò Barella stand durch Belgiens Super-Offensive um den trotz Bänderriss aufgebotenen Kevin De Bruyne nur ein Treffer durch Romelu Lukaku gegenüber. Und der fiel nach einem Foulelfmeter, der im Falle eines italienischen Ausscheidens sicher für reichlich aufgebrachte Diskussionen gesorgt hätte. Jetzt war’s allenfalls ein Randaspekt.
Nun gegen Spanien
«Jetzt kann alles passieren», sagte Verbandspräsident Gabriele Gravina und geriet ins Schwärmen. «Diese Idee der Schönheit, die wir mit diesen Jungs verbreiten und die das ganze Land erfasst, ist nicht nur mit dem Fußball verbunden, den wir spielen. Sondern auch mit der Qualität des Zusammenseins und dem Gefühl von Freundschaft.»
Auch die Medien in Italien sind euphorisch. «Italien, du bist großartig, großartig, großartig», frohlockte die «Gazzetta dello Sport» und stellte drei Jahre nach der verpassten WM in Russland stolz fest: «Wir sind wieder unter den Großen den Fußballs.» Wie groß, das wird auch vom Halbfinale im EM-Dauerbrenner mit den Spaniern abhängen. Bei der EM 2016 in Frankreich siegten zwar die Italiener im Achtelfinale. Doch die Lehrstunde aus dem EM-Finale 2012, als La Furia Roja den Südeuropa-Rivalen mit 4:0 demütigte, wirkt immer noch nach.
«Der Titel ist keine Fata Morgana mehr. La Roja zittert: Jetzt kommt Italien», schürte der «Corriere dello Sport» weitere Euphorie und stellte gerne fest: «Der Himmel über München ist azurblau.» Das freute Bayern Landesvater Markus Söder, der sich am Samstag gerne im blauen Italien-Sweater präsentierte. Die Tifosi konnten ihrerseits am Freitagabend in Monaco di Baviera auch ohne Oktoberfest einen Hauch von Bierzeltstimmung spüren. Besonders groß war die Freude, als die Stars zu den Anhängern auf der Tribüne rannten und die Corona-Empfehlungen nicht sonderlich streng auslegten.
Mancini: «Werden das genießen»
«Wir werden das genießen, entspannen und dann wird ein weiteres schweres Spiel folgen», sagte Mancini nach dem verdienten Sieg. Der frühere Weltklassestürmer war «stolz» auf sein Team, das taktisch sehr reif agiert hatte. Wenn es ein Manko gab, dann war es die Schlussphase, in der es die Italiener mit dem Zeitspiel etwas übertrieben und so die glanzvolle Vorstellung im Stile eines Champions etwas an Strahlkraft verlieren ließen. Auch die Wunderheilung von Ciro Immobile, der vor dem 1:0 auf dem Boden lag und einen Elfmeterpfiff hören wollte, nach dem Tor aber schnell wieder stand, rief Kopfschütteln hervor.
Tränen mischten sich wegen der schweren Verletzung des italienischen Verteidigers Leonardo Spinazzola in den Freudentaumel. Er zog sich in der Partie wie befürchtet einen Achillessehnenriss zu und wird damit mehrere Monate ausfallen. Die bittere Diagnose bestätigte Italiens Verband am Samstag, nachdem der Defensivspieler von AS Rom zuvor in Italiens Hauptstadt genauer untersucht worden war. Auf der Rückreise aus München feierten die Kollegen ihn mit Sprechchören besonders.
In Anspielung an den legendären Julius-Cäsar-Satz hatten die Belgier vor dem Spiel Lukaku bewaffnet als Gladiator mit den berühmten Worten «Veni, vidi…» in Szene gesetzt. Italiens Verband konterte nach dem Schlusspfiff mit einem in Landesfarben verzierten «vici». Veni, vidi, vici: Ich kam, sah und siegte.