Das erste Training des deutschen Tischtennis-Teams in der Olympia-Halle fand am Dienstag noch ohne Timo Boll statt. Der Rekord-Europameister fliegt erst einen Tag später nach Tokio.
Dass er dort vor lauter Corona-Schutzmaßnahmen kaum das Olympische Dorf verlassen darf, dürfte ihn vermutlich auch weniger stören als viele andere Athleten. Denn nach knapp 20 Jahren an der Weltspitze seines Sports gehört Boll zu den wenigen ausländischen Spielern, die in den tischtennis-begeisterten Ländern Asiens kaum auf die Straße gehen können, ohne dort gleich einen Menschenauflauf auszulösen. In China geht er manchmal nur verkleidet vor die Tür. In Japan sind Tradition und Bedeutung dieses Sports nicht wesentlich geringer.
Die sechsten Spiele für Boll
Olympische Spiele in Tokio sind folglich für jeden Tischtennis-Profi etwas besonderes. Für Boll kommt im Alter von 40 Jahren noch hinzu, dass seine sechsten Spiele «wahrscheinlich meine letzten sein werden», so genau weiß der deutsche Fahnenträger von 2016 das selbst noch nicht. Jedenfalls hat er in seiner Karriere schon acht EM-Titel, zwei World-Cup-Siege und vier Mal die Spitze der Weltrangliste erreicht – aber bislang noch nie eine olympische Medaille im Einzel.
Dass sich Boll genau zwei Wochen vor der Eröffnungsfeier an der Hüfte verletzt hatte, war ein kurzer Schreckmoment für ihn und das gesamte deutsche Team. Aber ein paar Tage Trainingsausfall vor dem Flug nach Tokio sind für ihn nichts im Vergleich zu den vorangegangenen Monaten, als er im Verlauf des Jahres 2020 zunächst um die Fortsetzung seiner Laufbahn bangte und dann im Juni 2021 trotzdem seinen achten Europameister-Titel im Einzel gewann.
Fast die Karriere beendet
Bolls Verletzung an sich war während der ersten Corona-Welle bekannt. Ein Rückenwirbel verursachte bei ihm starke Schmerzen. Wie groß dieses Problem war, fiel während der monatelangen Turnierpause des Jahres 2020 jedoch öffentlich nicht weiter auf. Zum ersten Mal sprach Boll direkt nach dem EM-Finale gegen seinen Freund und Teamkollegen Dimitrij Ovtcharov ganz kurz darüber. Der Deutschen Presse-Agentur sagte er vor den Olympischen Spielen: «Ich hänge sehr an dem Sport. Aber da habe ich zum ersten Mal wirklich gedacht: Vielleicht hat es keinen Sinn mehr. Vielleicht ist jetzt der Punkt gekommen.»
Über mehrere Monate spielte Boll während des vergangenen Jahres keinen einzigen Ball. «Wir haben viele Behandlungsmethoden ausprobiert, bis eine endlich funktioniert hat: Spritzen», erklärte er. «Ich hatte zwischenzeitlich fast schon die Hoffnung verloren, weil es so lange gedauert hat und die Schmerzen im Alltag so massiv waren. Die Gedanken an ein Karriereende kamen dadurch immer näher. Mir fällt das Aufhören sehr schwer. Zu spüren, dass dieser Moment vielleicht jetzt gekommen ist: Das hat mich ganz schön mitgenommen.»
Mit großem Trainingsrückstand gewannen Boll und sein Club Borussia Düsseldorf schon im Dezember wieder die Champions League. Spätestens seit diesem Frühjahr «ist die Geschichte ausgestanden», wie er sagt. «Es muss schon viel passieren, damit ich komplett aufgebe.»
Große Frage: Sind die Chinesen immer noch unschlagbar?
Auch der deutsche Sportdirektor Richard Prause sagte vor dem Abflug nach Tokio: «Die EM war für Timo ein Härtest, der gezeigt hat: Er kann an seinem Maximum spielen.» Denn in Warschau schlug Boll den früheren Weltranglisten-Ersten Ovtcharov, den WM-Zweiten Mattias Falck und den Düsseldorfer Kollegen Anton Källberg (beide Schweden).
Bei Olympia tritt die Nummer zehn der Weltrangliste im Einzel und mit der deutschen Mannschaft an, mit der er 2008 (Silber), 2012 (Bronze) und 2016 (Bronze) bereits drei Medaillen gewann. «Wenn ich fit bin, kann ich weit kommen und auch im Einzel und mit der Mannschaft um die Medaillen mitspielen», sagte Boll. «Aber ich muss immer erst einmal in ein Turnier hineinkommen und meinen Flow finden.»
Eine große Frage in Tokio wird sein: Sind die Chinesen noch immer nahezu unschlagbar, nachdem sie wegen der Corona-Pandemie seit fast anderthalb Jahren keine internationalen Wettkämpfe mehr bestritten haben? «Timo hat schon lange keinen Vergleich mehr mit den Asiaten gehabt. Das kann unter Umständen aber auch ein Vorteil sein», sagte Prause. «Wenn ein Timo Boll schmerzfrei ist, dann ist er kein Traumgegner für irgendeinen Spieler auf dieser Welt.»