Katar-Gefühle in Wien – Nagelsmanns «Opferrolle»

Julian Nagelsmann hat in seiner Karriere schon tiefe Krisen erlebt. Der ganzen Fußball-Nation zu erläutern, warum das einst liebste Kind gut ein halbes Jahr vor der Heim-EM wieder am Boden liegt, fiel dem Bundestrainer aber sichtlich schwer.

«Abgeschwächt und kryptisch», räumte der 36-Jährige ein, sei seine Analyse des schwer ernüchternden 0:2 im Wiener Spätherbst gegen den erstarkten Nachbarn Österreich – zum Schutz seiner Spieler um den mit Frust-Rot vom Platz geflogenen Leroy Sané und möglicherweise auch aus Selbstschutz. Eklatant blieb trotzdem: In dieser deutschen Nationalmannschaft stimmt wenig bis nichts.

«Jetzt kann man natürlich sagen, ich schmeiße im März wieder alles um und mache eine ganze andere Idee», sagte Nagelsmann im Ernst-Happel-Stadion, und das klang danach, als sei das Eingeständnis eines falschen Plans für seine ersten zwei Monate tatsächlich eine Option. «Oder wir sagen, wir gehen den weiter, und versuchen, eher den Weg einer Spitzenmannschaft zu gehen.» Spitzenmannschaft?

Ein Gefühl, wie einst im Khalifa-Stadion

Fast genau ein Jahr nach der folgenschweren Auftaktniederlage bei der Katar-WM gegen Japan (1:2) ist die DFB-Auswahl weit davon entfernt, auch nur zum erweiterten Favoritenkreis für das Heim-Turnier zählen zu dürfen. «Es ist viel vorgefallen in den letzten Jahren, das braucht man nicht wegzudiskutieren», sagte Niclas Füllkrug, dessen Appell so klang, als glaube er daran: «Wir müssen unseren Mann stehen, Brust rausnehmen und den Kopf hochnehmen und marschieren, marschieren, marschieren.»

Nur wird die deutschen Fans relativ wenig interessieren, was Nagelsmann und seine Spieler in der langen Länderspielpause bis März als Marschroute vorgeben. In Wien und den sozialen Medien kassierte die deutsche Auswahl Häme und Kritik, Stand jetzt müssen Wetter und gute Laune für EM-Stimmung sorgen – zumal bei der Auslosung am 2. Dezember in Hamburg eine wenig motivierende Supergruppe mit Holland und Italien droht. Tennis-Ikone Boris Becker verbrachte den Abend vor seinem 56. Geburtstag offensichtlich auch vor dem Fernseher und konstatierte: «Eine gewisse Sprachlosigkeit ist eingetreten.»

Die «Opferrolle» und die von Havertz

Tagelang war nach dem 2:3 gegen die Türkei über Nagelsmanns Taktik-Volte mit Kai Havertz als einer Art fliegender Linksverteidiger debattiert worden, da waren sie wieder, die 80 Millionen Bundestrainer. Nur war der gescholtene 24-Jährige in beiden November-Spielen gar nicht das Problem, Havertz spielte seine Rolle gar nicht schlecht. Das Manko bleibt die konfuse Abwehrarbeit mit individuellen Fehlern und «absurd» (Nagelsmann) vielen Ballverlusten, die auch der neue Bundestrainer nicht in den Griff bekommt.

«Ich will jetzt langsam rauskommen aus dieser Opferrolle, wie schlecht alles die letzten Jahre war und wie wenige Spiele wir gewinnen, und, und, und», sagte Nagelsmann und deutete verklausuliert an, wohin der Weg bis März gehen könnte: «Am Ende geht es für uns ein bisschen um das Bewusstsein der Situation und um die richtige Auswahl der passenden Spieler, die vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt weniger gut passen würden, aber zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht einen Tick besser passen in dem Statuts, in dem sich die deutsche Nationalmannschaft aktuell befindet.»

Nur der Ersatzmann ansatzweise in EM-Form

Mit Ausnahme des tapferen Kevin Trapp, der als Ersatz für Marc André ter Stegen im Tor gegen Österreich Schlimmeres verhinderte, erreichte kein Spieler die Form, die ihm im Verein nachgesagt wird. Abseits der Spiele sei sein Team zwar eine «sehr geschlossene Gemeinschaft mit einem unglaublich guten Miteinander», sagte Nagelsmann. Im Spiel seien dann aber noch «zu viele Einzelkämpfer» zu sehen. Sportdirektor Rudi Völler mahnte, «die Art und Weise, das ist nicht schön, das können wir uns nicht gefallen lassen, und das muss auch besser werden».

Das Grundproblem, wo und wie Joshua Kimmich spielen soll, versuchte Nagelsmann in Wien mit dem Bankplatz für den 28-Jährigen zu lösen. Leon Goretzka spielte dafür zwar defensiv umsichtig, aber auch überhaupt nicht mit Ilkay Gündogan zusammen, dessen Stammplatz mehr durch die Kapitänsbinde als durch Leistung im DFB-Trikot gerechtfertigt ist. Antonio Rüdiger fiel als Abwehrchef wieder mit Aussetzern auf, Mats Hummels zeigte Routine und Erfahrung, hat aber mit Geschwindigkeit ein Problem. Und deutlicher als gegen die Türkei fehlte jede Balance zwischen Offensive und Defensive.

Die Idee des Bundestrainers – und die von Rudi Völler

Nagelsmann führte die Hände zu den Schläfen, als er erklären wollte, was hinter seinen Überlegungen steckt. «Grundsätzlich ist die Denkweise eines Trainers nicht: Ich habe eine Idee und die knalle ich auf eine Mannschaft, sondern wir schauen uns natürlich an, was haben wir für Spieler?», sagte der 36-Jährige, um in der Folge zu berichten, dass es möglicherweise «fünf Sechser» und «fünf Zehner» gebe, aber nur anderthalb Stürmer und wenn überhaupt einen halben Linksverteidiger.

«Dann muss man sich vielleicht in die Faust beißen und sagen, vielleicht mal ein Toptalent weniger und einen Worker mehr», sagte der Bundestrainer und meinte den klassischen Arbeiter auf dem Weg nach hinten, was Völler beschrieb mit: «Ich weiß, das ist immer ein Begriff, ein Wort, das strapaziert wird, aber uns fehlen ein bisschen die deutschen Tugenden.» Der ganz einfache Fußball.

Ein Lichtblick im tristen DFB-Winter kann für Nagelsmann das angeschlagen fehlende Supertalent Jamal Musiala (20) sein. Im Oktober hatte der Münchner gemeinsam mit Florian Wirtz (20) gezeigt, welche Kreativität beide dem Spiel geben könnten. «Natürlich hat jeder Trainer erstmal die Hoffnung, okay, wenn du fünf Zauberer hast, die wuppen dir das vielleicht. Und die wuppen es auch normal, wenn wir das Vertrauen haben», sagte Nagelsmann. Aber das habe die DFB-Auswahl derzeit nicht – in etwas mehr als 200 Tagen wird die EM angepfiffen.

Jan Mies und Arne Richter, dpa