Kimmich will Krönung trotz Katar-Kritik: «Alle im Saft»

Joshua Kimmich schnappte sich noch schnell Niklas Süle für ein kurzes Gespräch vor dem Abschlusstraining.

Dann ging der ehrgeizige Mittelfeld-Antreiber mit fokussiertem Blick und aufgeblähten Wangen unter der sengenden Morgensonne in Al-Shamal voran. Seine Altersgenossen Süle und Leon Goretzka – alle 27 – reihten sich in der kleinen Gruppe bei den Aufwärmübungen hinter ihm ein. 

Die «One-Love»-Debatte und die große Fußball-Politik müssen ausgeblendet werden. Die WM in Katar ist – so umstritten sie ist – für Kimmich und seine Altersgenossen nach viel Turnier-Frust die möglicherweise größte oder sogar letzte Chance auf den größten Titel mit der Fußball-Nationalmannschaft. 

«Seitdem wir am Werk sind, haben wir es einfach nicht geschafft. Ab 2018 war es schlicht nicht mehr gut», sagte der 27-Jährige. Im Klassenbuch des hochgelobten Jahrgangs 1995/96 steht der Sieg beim Confederations Cup 2017 in Russland. Danach folgten nur noch Enttäuschungen. Selbstkritik war noch nie Kimmichs Problem. Sein teilweise überbordender Ehrgeiz soll diesmal ein entscheidender Antrieb sein. 

In besonderer Verantwortung

Nach dem EM-Aus im Achtelfinale 2021 gegen England (0:2) kullerten in Wembley die Tränen. Im Chalifa International Stadium in Doha soll am Mittwoch (14.00 Uhr/ARD und MagentaTV) gegen Japan der erste sportliche Glücksmoment in Katar gelingen. Kimmich steht dabei als Klassensprecher seiner Generation im Mittelbau zwischen den Oldies Manuel Neuer (36) und Thomas Müller (33) sowie den Teenagern Jamal Musiala (19) und Youssoufa Moukoko (18) in einer besonderen Verantwortung.

Bei der WM 2018 scheute der damalige Bundestrainer Joachim Löw einen konsequenten Generationenwechsel, brüskierte damit auch manche seiner Confed-Cup-Helden. Fünf Jahre nach dem Sieg bei der WM-Generalprobe in St. Petersburg sind acht Akteure von damals im aktuellen WM-Kader noch dabei. Ebenfalls acht DFB-Profis in Katar sind 1995 oder 1996 geboren und möglicherweise im Zenit ihrer Fußball-Schaffenskraft. «Ich habe ihm gesagt, dass ich bei meiner zweiten WM jetzt mit 27 Jahren Verantwortung übernehmen will», berichtete Süle von einem Gespräch mit Bundestrainer Hansi Flick. Die Zeit ist reif für diese Generation, auch wenn der Zeitpunkt mit Katar als Gastgeber denkbar schlecht ist. 

Verwerfungen früh thematisiert

Die sportpolitischen Verwerfungen, die die WM begleiten und mit dem «One-Love»-Eklat kurz vor der Japan-Prüfung ihren vorläufigen Gipfel erreichten, hat Bayern-Profi Kimmich früh thematisiert. Er definierte dabei das Dilemma für die Spieler zwischen professionellem Selbstverständnis und der öffentlichen Erwartung. «Generell bin ich der Meinung, dass wir für einen Boykott zehn Jahre zu spät dran sind», sagte er schon im Frühjahr 2021, als die DFB-Stars zum Start der WM-Qualifikation Aktionen für die Einhaltung der Menschenrechte organisierten. 

Verbockt wurde die Katar-Misere vor zwölf Jahren, durch die Vergabe an das Emirat durch zwei Dutzend FIFA-Funktionäre um Franz Beckenbauer. Kimmich, Goretzka, Serge Gnabry, Süle und der gegen Japan wegen Knieproblemen fehlende Leroy Sané waren damals C- und B-Jugendspieler. Jetzt als Umfaller der Nation gebrandmarkt zu werden, schmerzt bestimmt. «Im Fußball hat man die Chance, auf Dinge hinzuweisen. Da sehe ich nicht nur uns in der Pflicht, sondern auch andere Teile der Bevölkerung», sagte Kimmich schon vor dem FIFA-Diktat zur Spielführerbinde am Montag. 

Gerade Kimmich war mit seinem Kumpel Goretzka zu Beginn der Corona-Pandemie mit einer millionenschweren Hilfsaktion ein moralischer Musterknabe. Seine Impfskepsis brachte dem jungen Familienvater dann viel Gegenwind. Eine Leistungsdelle im Frühjahr hat er hinter sich gelassen. Er ist ein Fixpunkt in den WM-Planungen von Flick. Gedankenspiele, ihn wie 2021 wieder aus taktischer Not auf die rechte Außenbahn zu versetzen, gibt es nicht. Erstmals darf er bei einem großen Turnier auf der Lieblingsposition im Zentrum ran. «Was mir in der Mitte großen Spaß macht, ist, dass man immer Teil des Spiels ist», sagte Kimmich.

«Stehen alle im Saft»

«Wir stehen alle im Saft», betonte der 71-fache Nationalspieler vor dem Japan-Spiel in der ARD. Die Motivation, bei einem wirklich großen Turnier mit der DFB-Elf zu glänzen, ist riesig. «Wenn wir das erste Spiel gewinnen, glaube ich, dass sich eine Dynamik entwickelt in der Mannschaft», hofft Kimmich. Nach dem Champions-League-Sieg 2020 mit dem FC Bayern München hatte er proklamiert, dass er eine «eine Ära prägen» wolle. 

Zwangsläufig drängen sich Vergleiche mit der Goldenen Generation um Bastian Schweinsteiger auf, die viele vergebliche Titelanläufe brauchte, um sich ein Jahr nach dem Königsklassentitel mit den Bayern in Rio 2014 mit dem WM-Titel zu krönen.

Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa