Müller holt Gold im Kanu – Ave mit Weltrekord über 400 Meter

Es war vielleicht der größte deutsche Gänsehaut-Moment bei den Paralympics in Tokio: Als Edina Müller noch im Boot einen Sieger-Kuss von ihrem Sohn Liam bekam, waren all die Mühen und all der Ärger der vergangenen Monate nichtig.

«Da war alles andere vergessen», sagte die Hamburgerin, die neun Jahre nach Gold im Rollstuhlbasketball diesmal mit dem Kanu triumphierte.

Monatelang hatte die 38-Jährige dafür kämpfen müssen, den Zweijährigen als stillende Mutter überhaupt mit nach Japan nehmen zu dürfen. Weil er keine Akkreditierung für das Dorf bekam, wohnte Müller mit ihm und ihrem Partner im Hotel, musste dauernd pendeln. Doch zum Finale am Samstag war der Sohn an der Strecke, jubelte beim Zieleinlauf auf den Schultern von Vater Niko.

Ave sorgt für Highlight

Für ein deutsches Highlight sorgte am Abend auch Lindy Ave. Die 23-Jährige, die an einer Cerebralparese leidet, siegte über 400 Meter im strömenden Regen mit Weltrekord-Zeit von genau 1:00,00 Minute. «Regenwetter ist man gewohnt, wenn man an der Ostsee wohnt», sagte die Greifswalderin lachend: «Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich Weltrekord laufen kann. Erst recht nicht bei den Paralympics.» In der Vorbereitung hatte sie noch erwogen, auf die Stadionrunde zu verzichten.

«In drei Jahren in Paris steht Liam wahrscheinlich mit einer Fahne neben mir und wir werden seiner Mutter gemeinsam zujubeln», sagte Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes. Müller sei «eine Ausnahmesportlerin mit einer ungeheuren Disziplin», lobte er: «Die Sportart wechseln und Gold holen, das können nur Ausnahmeathleten.» Zuvor war es Annika Zeyen, Müllers Teamkollegin 2012, mit dem Handbike gelungen.

Besondere Umstände für Müller

Die besonderen Umstände um ihren Sohn machen Müllers Triumph noch außergewöhnlicher. «Edina steckt alles Äußere weg», sagte Beucher. Dass das Kind und der Partner in Japan dabei sind, sei für ihn «selbstverständlich. Aber wenn irgendetwas anders ist, müssen die Leute erst lernen, mit der Situation umzugehen. Doch Edina hat sich hier genauso beharrlich durchgesetzt wie sie es im Sport tut. Und hat es zu einem wunderbaren Ende geführt.» Das fand auch ihr Heimtrainer Arne Bandholz, der nach dem Triumph ins Wasser sprang. «Das musste einfach sein. Aber es war schön warm», sagte er durchnässt.

«Es hätte alles besser laufen können», sagte Müller über die Abläufe: «Aber das Wichtigste ist, dass wir zusammen ist und ich die Goldmedaille in der Hand habe.» Doch die organisatorischen Probleme endeten mit dem Triumph nicht. Während Teamkollegin Felicia Laberer (Berlin) nach ihrem Bronze-Lauf ankündigte, «dass es heute ordentlich abgehen» werde, empfand es Müller als «ein bisschen schwierig. Der Kleine darf ja nicht ins Dorf. Da müssen wir irgendeinen Ort finden, an dem wir alle zusammenkommen können.»

Dennoch habe sie «am Ende das Gefühl, doch alles richtig gemacht zu haben», sagte Müller: «Es gab Zweifler und einige, die nicht an mich und uns geglaubt haben. Jetzt mit der Goldmedaille dazustehen, ist der Wahnsinn.» Die letzte Krönung blieb aber aus. «Darauf hätte ich Bock», antwortete Müller auf die Frage, ob sie gerne Fahnenträgerin bei der Schlussfeier sein würde. Die Entscheidung hatte der Verband allerdings schon zuvor für Natascha Hiltrop (Lengers) getroffen. Die 29-Jährige hatte das erste Gold für die Sportschützen seit Athen 2004 geholt, dazu noch Silber, am Sonntag könnte sie nochmal Gold holen.

Derweil ist ihr Teamkollege Tim Focken in der Qualifikation gescheitert. Der Afghanistan-Veteran, der als erster deutscher kriegsversehrter Bundeswehrsoldat an den Paralympics teilnahm, kam mit dem freien Gewehr über 50 Meter am Samstag in der Qualifikation auf Rang 14. Focken war grippegeschwächt in den Wettkampf gegangen.

Noch heftiger erwischte es 100-Meter-Sieger Felix Streng trotz Silber über 200 Meter. «Ich bin sprachlos und geschockt. Mir hat es beim Aufwärmen voll in einen Adduktor gezogen. Ich konnte mir im Callroom nicht mal die Schuhe anziehen», sagte Streng. Dass er überhaupt lief, sei wohl «dem Adrenalin geschuldet».

Von Holger Schmidt und Tobias Brinkmann, dpa